11. März 2024 Interview, Sektorübergreifende Maßnahmen für planetare Gesundheit

„Wir müssen unsere Wirtschaftssysteme anders organisieren“

 

Wie beeinflusst Politik Gesundheit? Welche Faktoren führen zu Ungleichheiten? 2014 hat sich eine internationale Kommission des medizinischen Fachjournals „The Lancet“ diesen Fragen im Bericht „The political origins of health inequity: prospects for change“ gewidmet. Zehn Jahre später hat die Universität Oslo in einem Workshop Bilanz gezogen. Mit dabei war unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Remco van de Pas, mit dem wir einen Blick auf die wichtigsten Themen und Empfehlungen des Berichts werfen und diskutieren, was wir für heutige politische Maßnahmen daraus lernen können.

Politik beeinflusst Gesundheit. Das klingt aus heutiger Sicht nachvollziehbar und wenig originell. Was war neu am Bericht der Kommission vor zehn Jahren?

van de Pas — Das Neue an der Lancet-Kommission war ihr Blick über nationale Grenzen hinaus auf die internationalen Zusammenhänge. Es ging also erstmals darum, wie Gesundheit zwischen Ländern und ihren Regierungen, aber auch in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteur:innen wie NGOs, philanthropischen Organisationen und weltweit agierenden Unternehmen politisch organisiert wird. Der Bericht hat gezeigt, dass es länderübergreifende Faktoren gibt, die Gesundheit beeinflussen. Wenn zum Beispiel Deutschland viele Treibhausgase ausstößt, hat das Auswirkungen auf den Klimawandel und damit auch auf Gesundheit in anderen Ländern. Ähnliches gilt für das Handelssystem. Wenn wir geistiges Eigentum schützen und Medikamente deswegen nicht in anderen Ländern hergestellt werden können, dann haben die Menschen in diesen Ländern keinen oder nur erschwert Zugang zu diesen Produkten. Während der COVID-19 Pandemie konnten wir das für Impfstoffe und andere medizinische Produkte beispielsweise in Südafrika beobachten. Diese außenpolitischen Trends und die damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte sind politische Faktoren, Determinanten, die Gesundheit beeinflussen und mitbestimmen. Die Lancet-Kommission befasste sich 2014 erstmals mit den globalen Strukturen, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und andere Institutionen benötigen, um mit diesen Fragen umzugehen. Gesundheitliche Ungleichheiten – also, dass manche Menschen viel stärker gefährdet sind als andere – spielten dabei eine wichtige Rolle.

Inzwischen ist die Welt eine andere. Ist der Bericht immer noch aktuell?

van de Pas — Das war die zentrale Frage meines Workshops im Januar in Oslo zum 10-jährigen Erscheinen des Berichts. Im Bericht von 2014 wurden unter anderem Ernährungssicherheit oder die Auswirkungen der Sparmaßnahmen und der Finanzkrise untersucht. Auch der Umgang mit geistigem Eigentum oder mit bewaffneten Konflikten wurde diskutiert. Wirft man heute einen Blick auf die Empfehlungen von damals, um Ungleichheiten zu abzubauen, wird schnell klar, dass sich die Lage seither eher verschlechtert hat.

Die Empfehlungen sind also relevanter als je zuvor …

van de Pas — Ja. Allerdings konzentrieren sie sich stark auf institutionelle Reformen. Wie können die Organisationen der Vereinten Nationen – beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Welternährungsorganisation (FAO) – besser zusammenarbeiten, um diese Probleme in den Griff zu bekommen? Wie können Staaten und die Institutionen, in denen sie arbeiten, in die Pflicht genommen werden? In diese Richtung gingen die Empfehlungen vor zehn Jahren. Wir sehen jetzt, welche Grenzen das hat, auch weil der Privatsektor und philanthropische Organisationen massiv an Einfluss gewonnen haben. Die Verhandlungen über einen Pandemievertrag zeigen beispielsweise, wie schwierig es für die Mitgliedstaaten ist, sich in einer Organisation wie der WHO auf bestimmte Themen zu einigen und zu einer gerechten Lösung zu kommen.

Welche Rolle spielte das Thema Klima und Gesundheit?

van de Pas — Interessanterweise haben die Autor:innen des Berichts Klima- und andere Umweltfragen nicht angesprochen. Ich denke, das liegt zum einen an Umfang und Komplexität des Themas. Zum anderen war unklar welche Rolle die Akteur:innen im Gesundheitswesen und die Gesundheitsbehörden bei der Bewältigung der Klimakrise spielen würden. Die Autor:innen des Berichts kamen vor allem aus dem Bereich globale Gesundheit – mit wenig ökologischen Kenntnissen oder Einblicke in die Erdsystemwissenschaften. Sie sahen damals im Bereich Umwelt, Klima und Gesundheit kein direktes Mandat für Gesundheitsakteur:innen.

Warum ist der Bericht aus Perspektive von planetarer Gesundheit und für deine Arbeit trotzdem wichtig?

van de Pas — Gesundheit hat in internationalen Klimaverhandlungen seither immer mehr an Bedeutung gewonnen, bei der COP28 letzten Dezember war Gesundheit ein zentrales Thema. Planetare Gesundheit ist als wichtiges Feld entstanden, das Umwelt, Klima und Gesundheit zusammendenkt. Dennoch sind viele der Schwierigkeiten, die der Bericht skizziert hat, immer noch aktuell. Obwohl der Druck gestiegen ist, das Pariser Abkommen umzusetzen und die Klimakrise gemeinsam zu bewältigen, konzentrieren sich die Länder weiterhin zuerst auf die Bedürfnisse ihrer eigenen Bürger:innen. Auf den ersten Blick mag das verständlich sein, aber auf den zweiten eher kurzsichtig. Um das besser zu verstehen, müssen wir die zugrundeliegenden Strukturen betrachten, also jene politischen Determinanten, die der Bericht 2014 herausgearbeitet hat. Um ein Beispiel zu geben: In einer Pandemie ist neben der Entwicklung von Impfstoffen die Frage wichtig, wie sich die Entstehung von Infektionskrankheiten und ihre Verbreitung vermeiden lassen. Hier kommt die Perspektive der planetaren Gesundheit ins Spiel. Indem wir Wälder abholzen und aufgrund intensiver Agrarwirtschaft dringen wir tief in den Lebensraum anderer Arten ein. Damit steigt das Risiko, dass Krankheitserreger vom Tier auf den Menschen überspringen – und umgekehrt.

Anstatt sich also vorwiegend auf die Entwicklung von Impfstoffen zu konzentrieren, sollten wir uns dringend auch damit befassen, wie wir unsere Wirtschaft nachhaltiger organisieren. Hier liegt der Schlüssel, hier sollte man regulierend eingreifen. Im Kern bedeutet das, dass wir uns weniger auf ständiges Wachstum und Expansion fokussieren sollten, sondern mehr auf Suffizienz, also einen möglichst geringen Rohstoffverbrauch, der die natürliche Begrenzung der Ressourcen berücksichtigt. Als politische Botschaft ist das natürlich schwierig, denn zahlreiche ökonomische und Handelsinteressen sind involviert. Dennoch ist dieser Paradigmenwechsel notwendig, um Gesundheit innerhalb planetarer Grenzen zu gewährleisten. Ich sehe es als unseren Auftrag als Thinktank, zu einer sozial-ökologischen Transformation beizutragen. Und das bedeutet, dass wir auch unsere Wirtschaftssysteme anders organisieren müssen.

Blicken wir nach Deutschland. Welche Lehren können wir auch heute noch aus dem Bericht ziehen und wie kann die Arbeit der Kommission weitergeführt werden?

van de Pas — Deutschland ist ein sehr wichtiges Land, innerhalb der EU ist es das wirtschaftsstärkste Mitglied und weltweit gehört es zu den größten Exporteuren. Ich komme aus den Niederlanden, wo wir gern den Witz machen ‚wenn Deutschland eine Grippe hat, dann niesen wir in den Niederlanden‘. Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr, hat bereits viel in internationale Organisationen investiert und sieht die Notwendigkeit starker internationaler Organisationen, die an der Schnittstelle von Klima, Gesundheit und Biodiversität arbeiten. Doch wenn wir einen Nutzen haben wollen, sollten wir auch keinen Schaden anrichten. Hier muss Deutschland dringend besser werden. Den Schaden verursacht die Art und Weise wie wir wirtschaften, wenn wir zum Beispiel Produkte wie Autos, Chemikalien oder Rüstungsgüter exportieren, die ganz klar gesundheitliche Schäden anrichten können. Oder im Umgang mit internationalen Firmen, wenn diese für wirtschaftliche und ökologische Schäden, die sie in anderen Ländern anrichten, keine Verantwortung übernehmen müssen. Sind wir bereit an einer internationalen Gesetzgebung zu arbeiten, die sich mit Umweltverschmutzung befasst? Und übernehmen wir die Entschädigung, wenn die Umwelt zu Schaden gekommen ist? Es geht nicht nur darum, die Dinge künftig besser zu machen, sondern auch darum, Fehler zu korrigieren und wieder gut zu machen. Wenn wir als Thinktank diesen Ansatz einbringen können, dann sind wir schon ein Stück weiter.

Das Interview führte Dr. phil. Teresa Hollerbach. Redaktion: Maike Bildhauer.

Mit diesem und weiteren Interviews mit unseren Wissenschaftler:innen möchten wir aktuelle Debatten rund um planetare Gesundheit aufgreifen und über unsere Arbeit und Schwerpunkte informieren.

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