Es ist höchs­te Zeit, die kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit anzu­ge­hen

Rem­co van de Pas, Katha­ri­na Wab­nitz

Die kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit (Com­mer­cial Deter­mi­nants of Health, CDoH) wur­den defi­niert als „Sys­te­me, Prak­ti­ken und Wege, über die kom­mer­zi­el­le Akteur:innen Gesund­heit und Chan­cen­gleich­heit sowohl posi­tiv als auch nega­tiv beein­flus­sen“.1 Die CDoH wir­ken sich in viel­fäl­ti­ger Wei­se auf Gesund­heit aus, wie das fol­gen­de ernäh­rungs­po­li­ti­sche Bei­spiel zeigt.

Die dop­pel­te Belas­tung durch Fehl­ernäh­rung

Im Jahr 2013 hielt Car­los Mon­tei­ro, Pro­fes­sor für Ernäh­rung und öffent­li­che Gesund­heit an der Uni­ver­si­tät von Sao Pau­lo, auf einer Tagung der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) einen Vor­trag über die eska­lie­ren­de Adi­po­si­tas-Epi­de­mie in der Euro­päi­schen Regi­on.2 In die­ser Prä­sen­ta­ti­on zeig­te er deut­lich auf, wie der zuneh­men­de Ver­zehr von ultra-hoch ver­ar­bei­te­ten Lebens­mit­teln (ultra-pro­ces­sed foods, UPF, wie Soft­drinks, gefro­re­ne oder gekühl­te Fer­tig­ge­rich­te, Snacks usw.) zu einer regel­rech­ten Explo­si­on von nicht über­trag­ba­ren Krank­hei­ten wie Typ-2-Dia­be­tes und Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen geführt hat. Die­se Ent­wick­lung fand ins­be­son­de­re in den zwei Jahr­zehn­ten nach dem Fall der Ber­li­ner Mau­er statt, als Euro­pa sei­ne Gren­zen und Märk­te für mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Län­der öff­ne­te. So konn­ten west­li­che trans­na­tio­na­le Lebens­mit­tel- und Geträn­ke­kon­zer­ne den Kon­ti­nent infil­trie­ren und die­sen mit ihren Super­märk­ten und Ver­triebs­zen­tren, die von bil­li­ger mensch­li­cher Arbeit pro­fi­tie­ren, über­schwem­men. Kurz gesagt: die wirt­schafts­li­be­ra­le Glo­ba­li­sie­rung, San­ta Claus und Coca-Cola hat­ten gewon­nen. Der ame­ri­ka­ni­sche Traum, ein­schließ­lich sei­ner Ham­bur­ger und Donuts, soll­te für alle greif­bar wer­den. Ein bekann­ter
Fern­seh­spot aus dem Jahr 1997 steht sinn­bild­lich für die­se Markt­ex­pan­si­on: Michail Gor­bat­schow, der ehe­ma­li­ge Prä­si­dent der Sowjet­uni­on, warb für Piz­za Hut!3

Bereits 2013 hat­te die WHO die gesund­heits­schäd­li­chen Aus­wir­kun­gen unre­gu­lier­ter Prak­ti­ken der an „Big Food“, „Big Soda“ und „Big Alco­hol“ betei­lig­ten Indus­trien erkannt.4 Da Markt­macht leicht zu poli­ti­scher Macht wer­den kann, haben seit­her nur weni­ge Regie­run­gen der Gesund­heit Vor­rang vor „Big Busi­ness“ ein­ge­räumt.   Es ist ein welt­wei­tes Pro­blem, das Erkran­kun­gen und Todes­fäl­le zur Fol­ge hat, denn ultra-hoch ver­ar­bei­te­te Lebens­mit­tel sind inzwi­schen rund um den Glo­bus ver­füg­bar und selbst in mitt­le­re und unte­re Ein­kom­mens­schich­ten vor­ge­drun­gen. Es ist bemer­kens­wert, dass nur vier kom­mer­zi­el­le Pro­duk­te (Tabak, Alko­hol, UPF und fos­si­le Brenn­stof­fe) für ein Drit­tel der jähr­li­chen Todes­fäl­le welt­weit ver­ant­wort­lich sind.1 Seit 1975 hat sich die Zahl hoch­ge­wich­ti­ger Men­schen glo­bal fast ver­drei­facht. 2016 waren 39 % (1,9 Mrd.) der Erwach­se­nen im Alter von 18 Jah­ren und älter mehr­ge­wich­tig und 13 % adi­pös.5 Gleich­zei­tig lei­den welt­weit mehr als 900.000 Men­schen Hun­ger.6 Die­se dop­pel­te Belas­tung durch Fehl­ernäh­rung ist eine Form der Unge­rech­tig­keit, die sich eben­so wie die öko­lo­gi­schen Kri­sen als „Kata­stro­phe in Zeit­lu­pen­tem­po“ über den Glo­bus aus­brei­tet.

Die kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit

Kom­mer­zi­el­le Unter­neh­men sind sehr unter­schied­lich und han­deln nicht iso­liert, son­dern in einem Gefü­ge ande­rer Akteur:innen. Dazu gehö­ren auch Regie­run­gen, die theo­re­tisch die Mög­lich­keit hät­ten, Regu­lie­rungs­sys­te­me so zu gestal­ten, dass kom­mer­zi­ell beding­te Gesund­heits­schä­den unter­bun­den wer­den. Anstatt jedoch sol­che Regu­lie­rungs­me­cha­nis­men ein­zu­set­zen, schrän­ken Regie­run­gen Regu­lie­rung und Besteue­rung immer wie­der ein, was dazu bei­trägt, die neo­li­be­ra­le Glo­ba­li­sie­rung, eine Form des markt­wirt­schaft­li­chen Fun­da­men­ta­lis­mus oder die Ideo­lo­gie des frei­en Mark­tes, wei­ter aus­zu­bau­en.1 Groß­kon­zer­ne errei­chen ihr Ziel unter ande­rem durch inter­na­tio­na­le öffent­lich-pri­va­te poli­ti­sche Initia­ti­ven und Mul­ti-Stake­hol­der-Ansät­ze, die im All­ge­mei­nen den Geschäfts­in­ter­es­sen der Unter­neh­men ent­ge­gen­kom­men. Ein Bei­spiel hier­für ist die Bewe­gung „Sca­ling Up Nut­ri­ti­on“ (SUN), die die Nah­rungs­mit­tel­in­dus­trie ein­be­zieht und damit ein frei­wil­li­ges Part­ner­schafts­mo­dell und poten­zi­el­le Inter­es­sen­kon­flik­te anstel­le von stren­ge­ren staat­li­chen Vor­schrif­ten legi­ti­miert.7 Die Ein­fluss­nah­me von Unter­neh­men auf Poli­tik­ge­stal­tung umfasst außer­dem die Andro­hung recht­li­cher Schrit­te, Medi­en­kam­pa­gnen, die Ver­ein­nah­mung der Poli­tik sowie Tech­ni­ken zur Ver­zö­ge­rung, Unter­mi­nie­rung und Ver­mei­dung von Maß­nah­men.8

Der CDoH-Ansatz ist eine direk­te Reak­ti­on der inter­na­tio­na­len Public Health-Wis­sen­schaft, ‑Pra­xis und ‑Aktivist:innen auf die Behaup­tung von Unter­neh­men, dass der Kon­sum von Nah­rungs­mit­teln und ein gesun­des Ernäh­rungs­ver­hal­ten eine per­sön­li­che Ent­schei­dung sind.9 Die­se Sicht­wei­se ver­la­gert die Ver­ant­wor­tung von den­je­ni­gen, die unge­sun­de Pro­duk­te her­stel­len, und – was noch wich­ti­ger ist – von den­je­ni­gen, die die regu­la­to­ri­schen Rah­men­be­din­gun­gen für Unter­neh­men fest­le­gen, auf die Verbraucher:innen. Eine zen­tra­le Fra­ge ist daher, wel­che Art koope­ra­ti­ver Ideen und Alli­an­zen in der Lage wäre, die­ses Kon­glo­me­rat mäch­ti­ger Kon­zer­ne her­aus­zu­for­dern, die die (inter-)nationale Poli­tik ver­ein­nahmt haben, die eigent­lich die öffent­li­che Gesund­heit schüt­zen soll­te? Gibt es Stra­te­gien, um die­ser Ent­wick­lung ent­ge­gen­zu­wir­ken und Spiel­re­geln für Unter­neh­men zuguns­ten der öffent­li­chen Gesund­heit vor­an­zu­trei­ben?10

Den nega­ti­ven gesund­heit­li­chen Fol­gen ent­ge­gen­wir­ken

Hier lässt sich aus dem lang­jäh­ri­gen, wenn auch wenig beach­te­ten Enga­ge­ment von Aktivist:innen, Feminist:innen und kri­ti­schen Wissenschaftler:innen ler­nen, die sich seit den spä­ten 1970er Jah­ren dafür ein­set­zen, dem Ein­fluss von Unter­neh­men wie Nest­lé ent­ge­gen­zu­wir­ken. Neben ande­ren frag­wür­di­gen Prak­ti­ken hat­te Nest­lé Mut­ter­milch­er­satz­pro­duk­te als Alter­na­ti­ve zum regu­lä­ren Stil­len ver­mark­tet (und tut dies immer noch). Das Inter­na­tio­nal Baby Food Action Net­work (IBFAN), ein inter­na­tio­na­ler Zusam­men­schluss von Inter­es­sen­grup­pen, setzt sich seit über 40 Jah­ren für das Recht von Müt­tern ein, ihre Babys zu stil­len, ohne sich von irre­füh­ren­dem kom­mer­zi­el­len Druck und trü­ge­ri­schen Behaup­tun­gen sei­tens der Hersteller:innen von Baby­nah­rung beein­flus­sen zu las­sen.11 IBFAN appel­liert an Län­der, den Inter­na­tio­na­len Kodex zur Ver­mark­tung von Mut­ter­milch­er­satz­pro­duk­ten umzu­set­zen, der 1981 von der WHO ver­ab­schie­det wur­de.12 Die Orga­ni­sa­ti­on hat sich über geziel­te öffent­lich­keits­wirk­sa­me Kam­pa­gnen und über den Aus­tausch mit UN-Diplomat:innen für stren­ge­re Regu­lie­run­gen ein­ge­setzt. Zudem hat IBFAN das Anlie­gen mit einer brei­te­ren Sozi­al- und Gesund­heits­be­we­gung ver­knüpft, indem die Mög­lich­kei­ten recht­li­cher Hin­wei­se und der stra­te­gi­schen Rechts­durch­set­zung, der gesund­heit­li­chen Auf­klä­rung sowie der För­de­rung von Eigen­ver­ant­wor­tung der Men­schen genutzt wur­den. Die Erfol­ge von IBFAN zei­gen, dass es einer enga­gier­ten, unab­hän­gi­gen Koali­ti­on mit einer lang­fris­ti­gen Stra­te­gie und Aus­dau­er eben­so bedarf wie einer soli­den Finan­zie­rung frei von Inter­es­sen­kon­flik­ten, um der Beein­flus­sung von Poli­tik durch Unter­neh­men ent­ge­gen­zu­tre­ten.

Jüngs­te Unter­su­chun­gen haben gezeigt, wie die Lob­by der Indus­trie hoch-ver­ar­bei­te­ter Lebens­mit­tel (Ultra-Pro­ces­sed Food Indus­try, UPFI) aktiv ver­schie­de­ne Metho­den ein­setzt, um die Poli­tik der WHO im Bereich nicht-über­trag­ba­rer Krank­hei­ten im Sin­ne ihrer Inter­es­sen zu gestal­ten.13 Dazu gehö­ren inten­si­ve Lob­by­ar­beit von UPFI-Akteur:innen in den WHO-Mit­glied­staa­ten, die Koop­tie­rung der Zivil­ge­sell­schaft, die Ein­stel­lung ehe­ma­li­ger WHO-Mitarbeiter:innen und das kon­kre­te Kri­ti­sie­ren oder Unter­mi­nie­ren für die Unter­neh­men ungüns­ti­ger wis­sen­schaft­li­cher Infor­ma­tio­nen.12 In ähn­li­cher Wei­se wur­de fest­ge­stellt, dass Akteur:innen der Bran­che poli­ti­sche Bemü­hun­gen zur Ein­schrän­kung der Wer­bung für hoch-ver­ar­bei­te­te Lebens­mit­tel in öffent­li­chen Trans­port­mit­teln in Lon­don unter­gra­ben haben, indem sie bei­spiels­wei­se die vor­aus­sicht­li­chen Kos­ten über­schätzt und den mög­li­chen Nut­zen der Poli­tik gegen­über her­un­ter­ge­spielt haben.14

In den letz­ten zehn Jah­ren sahen und sehen sich Men­schen und Ein­rich­tun­gen im Bereich öffent­li­cher Gesund­heit welt­weit mit meh­re­ren Kri­sen kon­fron­tiert. Dazu gehö­ren man­geln­de Prä­ven­ti­on von, Vor­sor­ge für und Reak­ti­on auf Pan­de­mien, die Kli­ma­kri­se, den Ver­lust der bio­lo­gi­schen Viel­falt sowie die Zer­stö­rung und Ver­schmut­zung der Umwelt. Die­se Kri­sen, inklu­si­ve der Ver­ein­nah­mung durch Unter­neh­men in Form von glo­ba­len öffent­lich-pri­va­ten Initia­ti­ven als mög­li­che Lösun­gen, haben Regie­run­gen davon abge­hal­ten, Maß­nah­men mit Blick auf die kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit zu ergrei­fen. Zynisch zusam­men­ge­fasst könn­te man sagen, dass die Kon­zer­ne der Lebensmittel‑, Alko­hol- und Fos­sil­in­dus­trie zumin­dest kurz­fris­tig davon pro­fi­tie­ren, dass sich die Regie­run­gen auf ande­re, schein­bar drin­gen­de­re Pro­ble­me kon­zen­trie­ren müs­sen. Nichts­des­to­trotz ist die dop­pel­te Belas­tung durch Fehl­ernäh­rung nur ein wei­te­res Sym­ptom eines Wirt­schafts­sys­tems, das sei­nen Zweck nicht erfüllt, da es Wachs­tum ermög­licht, das nicht nach­hal­tig ist und kei­ne Rück­sicht auf Umwelt- oder Gesund­heits­schä­den nimmt.15 Die Maß­nah­men zu den kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit soll­ten daher als Teil eines umfas­sen­de­ren Umden­kens der (glo­ba­len) poli­ti­schen Steue­rung des Wirt­schafts­sys­tems betrach­tet wer­den — mit dem Ziel, allei­ni­ge Gewinn­ori­en­tie­rung zu mini­mie­ren und Gesund­heit und Gerech­tig­keit als Haupt­zweck des Sys­tems in den Mit­tel­punkt zu stellen.16 Post­wachs­tums-Wirt­schafts­mo­del­le, die auf rege­ne­ra­ti­ven und dis­tri­bu­ti­ven Prin­zi­pi­en beru­hen, um die Bedürf­nis­se aller Men­schen im Rah­men pla­ne­ta­rer Belas­tungs­gren­zen zu befrie­di­gen, wer­den für das Errei­chen die­ser Zie­le ent­schei­dend sein. Ein sol­cher auf das Gemein­wohl aus­ge­rich­te­ter Ansatz wird auch von der WHO aktu­ell pro­pa­giert.17

Der Teu­fel steckt im Detail

Es kommt jedoch dar­auf an, wie die von Regie­run­gen und inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen ver­folg­te Poli­tik zur För­de­rung des Gemein­wohls statt der Gewinn­ma­xi­mie­rung aus­ge­stal­tet wird. Im Kern sind wesent­li­che Ände­run­gen der inter­na­tio­na­len Han­dels­be­stim­mun­gen und Steu­er­ab­kom­men erfor­der­lich. Der­zeit begüns­ti­gen die­se die Inter­es­sen von Investor:innen und glo­ba­len Unter­neh­men gegen­über dem Gemeinwohl.Notwendig wäre zudem ein stren­ge­rer inter­na­tio­na­ler Rege­lungs­rah­men, bei­spiels­wei­se ein UN-Über­ein­kom­men zur Mini­mie­rung schäd­li­cher Aus­wir­kun­gen kom­mer­zi­el­ler Lebens­mit­tel- und Geträn­ke­pro­duk­te, ähn­lich der Frame­work Con­ven­ti­on on Tob­ac­co Con­trol.18 Kon­kret müss­ten sich Regie­run­gen, Bürger:innengruppen und Unter­neh­men für alter­na­ti­ve Geschäfts­mo­del­le öff­nen, wie zum Bei­spiel lokal-koope­ra­ti­ve Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­ti­ons­sys­te­me.

Denk­bar wäre auch ein staat­lich sub­ven­tio­nier­tes, öffent­li­ches Inves­ti­ti­ons­mo­dell für Lebens­mit­tel- und Was­ser­ver­sor­gungs­un­ter­neh­men, das öko­lo­gi­sche und sozia­le Zie­le belohnt und die Gewinn­span­nen der Aktionär:innen mini­miert, aber dabei fair bleibt. In Aus­tra­li­en, Indi­en und Bra­si­li­en hat man bereits gute Erfah­run­gen mit sol­chen so genann­ten „öffent­lich-öffent­li­chen“ Initia­ti­ven gemacht.16 Es bedarf einer ver­ein­ten Gesundheits‑, Sozial‑, Umwelt- und Arbeiter:innenbewegung, die über einen poli­ti­schen und bür­ger­schaft­li­chen Mobi­li­sie­rungs­pro­zess von Regie­run­gen und Unter­neh­men ver­langt, ihre Prak­ti­ken grund­le­gend zu ändern.

Die Geschich­te lehrt uns, dass eine sol­che Mobi­li­sie­rung ange­sichts der poli­ti­schen und finan­zi­el­len Macht kom­mer­zi­el­ler Akteur:innen not­wen­dig ist, um trans­for­ma­ti­ven Wan­del zu errei­chen.16 Die Gesundheitsakteur:innen müs­sen Alli­an­zen schlie­ßen, um sich selbst vor der Ein­fluss­nah­me durch die Indus­trie zu schüt­zen und gleich­zei­tig die Akti­vi­tä­ten der Unter­neh­men zu über­wa­chen und ihre Argu­men­te zu ent­lar­ven.9 Die jahr­zehn­te­lan­ge Kam­pa­gne von Food­watch rund um den Nut­ri-Score, eine verbraucher:innenfreundliche Nähr­wert­kenn­zeich­nung, gegen die die Lebens­mit­tel­in­dus­trie 18 Jah­re lang Lob­by­ar­beit geleis­tet hat, zeigt, wel­che enga­gier­ten und hart­nä­cki­gen Bemü­hun­gen erfor­der­lich waren, um eine ver­bind­li­che euro­päi­sche Nah­rungs­mit­tel­kenn­zeich­nung zu errei­chen.19

Begren­zung von Pro­duk­ti­on und Kon­sum schäd­li­cher Pro­duk­te

Im Wesent­li­chen geht es dar­um, den Kon­sum und die Pro­duk­ti­on unge­sun­der und umwelt­schäd­li­cher Lebens­mit­tel und ande­re für Gesund­heit und Umwelt schäd­li­che kom­mer­zi­el­ler Prak­ti­ken ein­zu­schrän­ken, bei­spiels­wei­se von gesüß­ten und alko­ho­li­schen Geträn­ken. Auf struk­tu­rel­ler Ebe­ne erfor­dert dies — zumin­dest in Län­dern mit hohem Ein­kom­men — eine Begren­zung des der­zei­ti­gen Wirt­schafts­wachs­tums und die Aus­ein­an­der­set­zung mit Ansät­zen für eine Post­wachs­tums­stra­te­gie in den Berei­chen Gesund­heit, Ernäh­rung und Land­wirt­schaft.16 Welt­weit muss mas­siv in eine diver­si­fi­zier­te, klein­bäu­er­li­che, nicht-kom­mer­zi­el­le und umwelt­freund­li­che Land­wirt­schaft inves­tiert wer­den. Bäue­rin­nen und Bau­ern müs­sen in der Ent­schei­dungs­fin­dung ver­tre­ten sein, und glo­ba­le Gesundheitsakteur:innen kön­nen sich in inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät für den Auf­bau von Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät ein­set­zen.20 Die­sem Stre­ben nach mehr Sou­ve­rä­ni­tät in Bezug auf Nah­rungs­mit­tel und Gesund­heit liegt eine Ethik der Suf­fi­zi­enz und des „Limita­ris­mus“ zugrun­de. Die­se ver­tritt die Idee, dass heu­te und auch in der nahen Zukunft, nie­mand mehr haben (oder kon­su­mie­ren) soll­te, als für ein gesun­des, erfüll­tes Leben nötig ist.21 In der Medi­zin und im öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen bedeu­tet dies, dem Grund­satz der ärzt­li­chen Ethik “First, Do No Harm” (Ers­tes Gebot: Scha­de nie­man­dem) zu fol­gen, wenn es dar­um geht, in Gesell­schaf­ten zu inter­ve­nie­ren oder Patient:innen zu behan­deln.22

Die kom­mer­zi­el­len Deter­mi­nan­ten von Gesund­heit sind eine der größ­ten glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen für die mensch­li­che Gesund­heit, aber auch eine Chan­ce, im kom­men­den Jahr­zehnt kon­kre­te Maß­nah­men zu ergrei­fen. Wir müs­sen die Schä­den begren­zen, die Mensch und Erde durch die­se Fak­to­ren in einer glo­ba­li­sier­ten Markt­wirt­schaft zuge­fügt wer­den, indem wir die Pro­duk­ti­on, Ver­ar­bei­tung, Lie­fer­ket­ten und das Mar­ke­ting von Lebens­mit­teln bes­ser regu­lie­ren und Bedin­gun­gen für ein Öko­sys­tem für pla­ne­tar gesun­de Ernäh­rung schaf­fen.


Die­ser Text wur­de am 17. Juli 2023 von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung ver­öf­fent­licht. Sie fin­den den Ori­gi­nal­text hier.

1 Gilm­o­re, A. B., Fabbri, A., Baum, F., Bert­scher, A., Bon­dy, K., Chang, H. J., … & Thow, A. M. (2023). Defi­ning and con­cep­tua­li­sing the com­mer­cial deter­mi­nants of health. The Lan­cet, 401(10383), 1194–1213.

2 Mon­tei­ro, C. (2013) Spe­ci­fic poli­ci­es to tack­le diet-rela­ted NCDs in Euro­pe. Euro­pean Minis­te­ri­al Con­fe­rence on Nut­ri­ti­on and Non­com­mu­ni­ca­ble Dise­a­ses in the con­text of Health 2020 https://www.slideshare.net/who_europe/specific-policies-to-tackle-dietrelated-ncd-in-europe (abge­ru­fen am 26.07.2023)

3 Mus­gra­ve, P. (2019) Mikhail Gorbachev’s Piz­za Hut Thanks­gi­ving Mira­cle. FP https://foreignpolicy.com/2019/11/28/mikhail-gorbachev-pizza-hut-ad-thanksgiving-miracle/ (abge­ru­fen am 26.07.2023)

4 World Health Orga­niza­ti­on (2013) WHO Direc­tor-Gene­ral addres­ses health pro­mo­ti­on con­fe­rence. World Health Orga­niza­ti­on https://www.who.int/director-general/speeches/detail/who-director-general-addresses-health-promotion-conference (abge­ru­fen am 26.07.2023)

5 World Health Orga­niza­ti­on (2021) Obe­si­ty and over­weight. World Health Orga­niza­ti­on https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/obesity-and-overweight (abge­ru­fen am 26.07.2023)

6 World Food Pro­gram­me (2023) A glo­bal food cri­sis. World Food Pro­gram­me https://www.wfp.org/global-hunger-crisis (abge­ru­fen am 26.07.2023)

7 Lie, A. L. (2021). ‘We are not a partnership’–constructing and con­test­ing legi­ti­ma­cy of glo­bal public–private part­ner­ships: the Sca­ling Up Nut­ri­ti­on (SUN) Move­ment. Glo­ba­liza­ti­ons, 18(2), 237–255.

8 Lacy-Nichols, J. et al. (2023). Con­cep­tua­li­sing com­mer­cial enti­ties in public health: bey­ond unhe­alt­hy com­mo­di­ties and trans­na­tio­nal cor­po­ra­ti­ons. The Lan­cet, 401(10383), 1214–1228.

9 Glo­bal Health Watch 6: in the shadow of the pan­de­mic. (2022) Con­fron­ting the com­mer­cial deter­mi­nants of health. Bloomsbu­ry Publi­shing. https://phmovement.org/wp-content/uploads/2023/03/GHW6-chapter-C3.pdf (abge­ru­fen am 26.07.2023)

10 Lacy-Nichols, J. et al. The public health play­book: ide­as for chal­len­ging the cor­po­ra­te play­book. The Lan­cet Glo­bal Health 10.7 (2022): e1067-e1072.

11 Ster­ken, E. (2021). IBFAN News Brief: Breast­fee­ding Pro­tec­tion and Tack­ling Mal­nu­tri­ti­on in the Time of COVID. https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/08903344211017024 (abge­ru­fen am 26.07.2023)

12 World Health Orga­niza­ti­on (1981) Inter­na­tio­nal Code of Mar­ke­ting of Breast-Milk Sub­sti­tu­tes. World Health Orga­niza­ti­on. https://www.who.int/publications/i/item/9241541601 (abge­ru­fen am 26.07.2023)

13 Lau­ber, K., Rut­ter, H., & Gilm­o­re, A. (2021). Big Food and the World Health Orga­niza­ti­on: A qua­li­ta­ti­ve stu­dy of cor­po­ra­te poli­ti­cal acti­vi­ty in glo­bal-level non-com­mu­ni­ca­ble dise­a­se poli­cy. BMJ Glo­bal Health, 6(6), [e005216].

14 Lau­ber, K., Hunt, D., Gilm­o­re, A.B., Rut­ter, H., 2021. Cor­po­ra­te poli­ti­cal acti­vi­ty in the con­text of unhe­alt­hy food adver­ti­sing rest­ric­tions across Trans­port for Lon­don: A qua­li­ta­ti­ve case stu­dy. PLOS Medi­ci­ne 18, e1003695.

15 Hens­her, Mar­tin, et al. Health care, over­con­sump­ti­on and une­co­no­mic growth: A con­cep­tu­al frame­work. Social Sci­ence & Medi­ci­ne 266 (2020): 113420.

16 Fri­el, S., Col­lin, J., Dau­be, M., Depoux, A., Freu­den­berg, N., Gilm­o­re, A. B., … & Mial­on, M. (2023). Com­mer­cial deter­mi­nants of health: future direc­tions. The Lan­cet, 401(10383), 1229–1240.

17 World Health Orga­niza­ti­on (2022) Achie­ving well-being — A draft glo­bal frame­work for inte­gra­ting well-being into public health uti­li­zing a health pro­mo­ti­on approach. World Health Orga­niza­ti­on. https://www.who.int/publications/m/item/achieving-well-being (abge­ru­fen am 26.07.2023)

18 WHO Frame­work Con­ven­ti­on on Tob­ac­co Con­trol (2023) WHO Frame­work Con­ven­ti­on on Tob­ac­co Con­trol. https://fctc.who.int/who-fctc/overview (abge­ru­fen am 26.07.2023)

19 Food­watch (2022) Nut­ri-Score in the EU: 18 years of food lob­by­ing https://www.foodwatch.org/en/news/2022/nutri-score-in-the-eu-18-years-of-food-lobbying/ (abge­ru­fen am 26.07.2023)

20 Via Cam­pe­si­na (2023) What is La Via Cam­pe­si­na? https://viacampesina.org/en/who-are-we/what-is-la-via-campesina/ (abge­ru­fen am 26.07.2023)

21 Robeyns, I. (2022). Why limita­ria­nism?. Jour­nal of Poli­ti­cal Phi­lo­so­phy, 30(2), 249–270.

22 Sokol D K. “First do no harm” revi­si­ted. BMJ 2013; 347:f6426