“Die Entwicklung zukünftiger Gesundheitssysteme muss von der Vision einer allgemeinwohlorientierten Wirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen geleitet sein, die auf internationaler Solidarität und sozialer Gerechtigkeit beruht.”
Think Piece T‑01–23
DOI: 10.5281/zenodo.7554101
Wie in den meisten europäischen Ländern ist das deutsche Gesundheitssystem Teil eines Wirtschaftssystems, dem es intrinsisch an gesundheitlicher, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit mangelt. Der deutsche Gesundheitssektor ist für 5,2 % der nationalen Treibhausgasemissionen verantwortlich.1 2011 mussten 51 von 1.000 Patient:innen mit Diabetes ins Krankenhaus eingeliefert werden. Damit hat Deutschland eine der höchsten Aufnahmeraten im europäischen Vergleich, bei einer Erkrankung, die durch ambulante Präventionsmaßnahmen leicht zu vermeiden wäre.2 Seit dem Jahr 2013 ist der Anteil ausländischer Pflegekräfte von 5,8 % auf 11 % gestiegen, was als eine Form des Braindrains aus dem globalen Süden angesehen werden kann.3 In diesem Impuls zeigt Dr. Remco van de Pas, wie diese Beispiele miteinander zusammenhängen.
Das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung wächst stetig, Mehrfacherkrankungen und spezifische Gesundheitsbedarfe werden dadurch immer wahrscheinlicher und es ist zukünftig mit einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen zu rechnen. Diese Herausforderungen werden durch ein Gesundheitssystem verstärkt, das einerseits historisch von den Grundsätzen der Solidarität und Subsidiarität geprägt ist, andererseits aber auch von wirtschaftlichen Interessen und expansivem Wachstum getrieben wird. Solch ein System führt zwangsläufig zu negativen Begleiterscheinungen wie Umweltverschmutzung, ungleichem Zugang zu Versorgung, schlechter Versorgungsqualität und Überkonsum medizinischer Leistungen. Was aktuell jedoch zu wenig in den Blick genommen wird: All diese Begleiterscheinungen könnten zu einem gewissen Grad vermieden werden.
Die nicht nachhaltige Ökonomie des deutschen Gesundheitssystems
Das deutsche Gesundheitssystem wird über ein soziales Krankenversicherungssystem finanziert und gilt als eines der ältesten und solidesten Gesundheitsfinanzierungsmodelle der Welt. Die Beitragszahlungen, steuerlichen Transfers und Funktionsweisen basieren auf einer expansiven Wirtschaftslogik. Das heißt: Je mehr Beschäftigte, desto höhere Einnahmen in Form von Krankenkassenbeiträgen. Ein Beispiel dieser Ökonomisierung ist der strategische Einkauf von Krankenhausleistungen und die Einführung des Fallpauschalensystems vor etwa 20 Jahren.4 Die Robustheit dieses Gesundheitsfinanzierungsmodells ist gleichzeitig auch seine Achillesferse. Das System funktioniert und hat sogar kurzfristige Vorteile, solange es Wirtschaftswachstum gibt (gemessen als Anstieg des Bruttoinlandsprodukts [BIP]) und die Gesamtbeschäftigungsquote hoch ist. In Zeiten einer Rezession, sozialpolitischer Instabilität oder gesundheitlicher Krisen (z. B. während der Covid-19-Pandemie) müssen große Mengen öffentlicher Gelder in Form von Rettungsschirmen bereitgestellt werden, um das System aufrechtzuerhalten. Die Reaktion auf die Covid-19-Pandemie zeigt, dass dies in einem wohlhabenden Land wie Deutschland möglich ist. Dennoch sollten solche Systemschocks nicht zu einem Dauerzustand werden (wie es bspw. durch die Auswirkungen des Klimawandels zu erwarten ist), da dies die wirtschaftliche Basis der Gesundheitsfinanzierung gefährdet.
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Unwirtschaftliches Wachstum
“Unwirtschaftliches Wachstums […] liegt dann vor, wenn Produktionssteigerungen auf Kosten von Ressourcen und Allgemeinwohl gehen, die mehr wert sind als die produzierten Güter.”
Die wirtschaftlichen Anreize im Gesundheitssystem, durch die private Investitionen, medizinisches Unternehmertum und Expansion belohnt werden, ziehen negative Folgen nach sich. Hierzu zählt der Fokus auf medizinische Behandlungen, noch verstärkt durch Überdiagnostik, während gute Gesundheits- und Sozialpolitik für Prävention und Gesundheitsförderung vernachlässigt wird. Es besteht eine Tendenz zur Medikalisierung von Gesundheitszuständen, wodurch weniger öffentliche Mittel für die Kernaufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens bereitstehen – für Prävention und Gesundheitsförderung.5
Aufgrund dieser Unterfinanzierung aus öffentlichen Finanzmitteln sind kompetentes Personal und die grundlegende Infrastruktur im Gesundheitssystem mit der Zeit immer weniger in der Lage, qualitativ hochwertige Primärversorgung, Gesundheitsschutz und die Förderung von Gesundheit und Allgemeinwohl zu gewährleisten.6 Dieses Phänomen kann als „unwirtschaftliches Wachstum“ bezeichnet werden. Es liegt dann vor, wenn Produktionssteigerungen auf Kosten von Ressourcen und Allgemeinwohl gehen, die mehr wert sind als die produzierten Güter.7 In der Gesundheitsversorgung wird dies anhand der Ausweitung des Gesundheitssystems deutlich. Sie verursacht so hohe soziale und ökologische Kosten, dass sie den gewonnenen Zusatznutzen übersteigen.8 Auf globaler Ebene weisen wissenschaftliche Erkenntnisse darauf hin, dass dieses unwirtschaftliche Wachstum bei einem Ausbau des Gesundheitswesens in dreifacher Hinsicht problematisch ist:
- Das Ausmaß vermeidbarer iatrogener Schäden, die durch die moderne Gesundheitsversorgung entstehen, ist beträchtlich und gefährdet die Patient:innensicherheit. Schätzungen aus 14 Ländern mit hohen Einkommen zeigen, dass zwischen 2,9 %und 16,6 % aller Krankenhauseinweisungen mit Komplikationen einhergehen.8
- Es gibt immer mehr Hinweise auf eine Überversorgung im Gesundheitswesen. Studien deuten darauf hin, dass etwa 10–30 % aller Gesundheitsleistungen in Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen als Überversorgung gelten könnten. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Überbehandlungen, Überdiagnosen, minderwertiger Versorgung und Pharmakologisierung.8
- Die Umweltauswirkungen des unwirtschaftlichen Wachstums der Gesundheitssysteme sind beträchtlich. Weltweit entfallen bis zu 4–6 % der Treibhausgasemissionen auf das Gesundheitssystem und auf die damit verbundene Produktion und den Verbrauch von medizinischen Produkten8. Darüber hinaus werden Rückstände von Arzneimitteln (z.B. Antibiotika), andere giftige Abfallprodukte und Kunststoffe in die Umwelt freigesetzt. Hieraus könnte ein Teufelskreis entstehen, bei dem vermeidbare Gesundheitsschäden zu einer „irrtümlichen Nachfrage“ nach Gesundheitsfürsorge führen, wobei unnötige und qualitativ minderwertige Pflege zu einem weiteren Gesundheitsrisiko für die Patient:innen wird.
Führen mehr Gesundheitsausgaben zu mehr Gesundheit?
Die Wachstums- und Expansionstendenzen des Gesundheitssystems zeigen sich in den Zahlen der Gesundheitsausgaben der letzten Jahre. 2018 gab Deutschland rund 390,6 Mrd.€ für Gesundheit aus, was 11,7 % des BIP entspricht.9 Durch die hohen Ausgaben während der Covid-19-Pandemie und angesichts des allgemeinen Wirtschaftsabschwungs stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP in den OECD-Ländern von 8,8 % im Jahr 2019 auf 9,7 % im Jahr 2020.10 Deutschland gehört damit in Europa zu den Ländern mit den höchsten Gesundheitsausgaben (Abbildung 1). Der prozentuale Anstieg der Gesundheitsausgaben war in den letzten 20 Jahren (wie in den meisten westeuropäischen Ländern) höher als das Wachstum des BIP.9 Das wirft die Frage auf, ob die steigenden Ausgaben mit besseren Gesundheitsergebnissen einhergegangen sind. Die Antwort fällt weitestgehend negativ aus, wie mehrere Public Health Indikatoren zeigen. So ist keine Verbesserung in Hinblick auf vermeidbare Krankenhauseinweisungen oder vermeidbare Sterblichkeit – vorzeitige Todesfälle, die bei rechtzeitiger und wirksamer Gesundheitsversorgung nicht auftreten sollten – zu erkennen.9
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Postwachstums-Alternativen
“Degrowth erfordert […] die Umkehrung der Prozesse, die dem Wachstum zugrunde liegen: Deakkumulation,Dekommodifizierung und Dekolonisierung.”
Wirtschaftswachstum erfolgt üblicherweise durch eine Steigerung des BIP, also im Wesentlichen durch ein Maß für die Produktion und den Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen in einem bestimmten Land.11 Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind BIP-Indikatoren zwar ein weit verbreitetes, aber ungeeignetes Mittel um Ergebnisse in Bezug auf Gesundheit und Allgemeinwohl zu beurteilen.11 Es ist auch ein ungeeignetes Messinstrument, um wirtschaftliche Aktivitäten zu erfassen, da es die verursachten Kosten für Umwelt, Gesellschaft und Gesundheit (auch bekannt als wirtschaftliche Externalitäten) weitestgehend nicht einbezieht. Zudem werden immaterielle Werte, wie beispielsweise die Zufriedenheit am Arbeitsplatz, trotz ihrer Relevanz nicht berücksichtigt.11 Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist eine gesellschaftliche Debatte zu folgenden Fragen notwendig:
- Wie können Gesundheit und Allgemeinwohl gefördert werden, ohne die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde zu überschreiten?
- Welche Form von medizinischer Versorgung, öffentlichen Gesundheitssystemen, Sozial- und Pflegedienstleistungen sollten priorisiert und welche Dienstleistungen eingestellt werden?
Diese Fragen beinhalten auch Überlegungen zu den gesetzlichen Grundlagen des deutschen Sozialversicherungssystems, wie Zugang, Qualität und Finanzierung.12 Sie sollen zu weiteren Diskussionen anregen, wie ein klimaneutrales und schockresistentes Gesundheitssystem innerhalb einer Kreislaufwirtschaft, wie beispielsweise der „Donut-Ökonomie“, aussehen könnte.
Bei Postwachstums-Strategien, die auf dem Konzept der „Donut-Ökonomie“ oder der Degrowth-Bewegung beruhen, geht es nicht um die Verringerung des BIP als Selbstzweck, sondern vielmehr um die Notwendigkeit, den Energie- und Materialverbrauch zu verringern.13 Auch wenn eine Reduktion des Konsums wahrscheinlich zu einem Rückgang des BIP führt, befassen sich Postwachstums-Strategien auch mit der Umstrukturierung von Gesellschaften, um den Lebensunterhalt der Menschen trotz eines Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Aktivität auf demokratische Weise zu sichern.13 Hickels, einer der führenden Ökonomen der Postwachstums-Bewegung, stellt klar, dass „Wachstum“ im Diskurs zu einer Art Propagandabegriff geworden ist, da er nach etwas Natürlichem und Positivem klingt. Tatsächlich ist Wirtschaftswachstum aber historisch gesehen vor allem ein Prozess der Akkumulation durch Eliten, der Kommodifizierung von Gemeingütern und des Aneignens menschlicher Arbeit und natürlicher Ressourcen – ein Vorgang, der häufig koloniale Charakterzüge trägt.14 Dieser Prozess, der in der Regel zerstörerisch für menschliche Gemeinschaften und Natur ist, wird mit dem Begriff „Wachstum“ beschönigt. Die Degrowth-Bewegung fordert daher die Umkehrung dieser Vorgänge, die dem Wachstum zugrunde liegen: Deakkumulation, Dekommodifizierung und Dekolonisierung.14
Wenn die Gesundheit von Menschen und Umwelt heute und in Zukunft geschützt werden soll, können wir es uns nicht leisten, weiterhin auf ein extraktives Wirtschaftsmodell zu setzen. Denn genau dieses Modell hat Gesellschaften überhaupt erst in die global verflochtenen sozialen und ökologischen Krisen geführt. Wenn wir uns auf die Ziele von Planetarer Gesundheit zubewegen wollen, brauchen wir einen radikal anderen Ansatz für die Organisation unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften, einschließlich ihrer Gesundheitssysteme. Im Wesentlichen bedeutet dies, den Energie- und Ressourcenverbrauch in Ländern mit hohem Einkommen zu reduzieren und gleichzeitig zu einer Wirtschaft überzugehen, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse abzielt. Es bedeutet auch, dass wir gemeinsam Verantwortung für die Grundbedürfnisse übernehmen, die in Ländern mit niedrigeren Einkommen nicht erfüllt werden. Dies ist zwingend notwendig, um den Forderungen nach einer sogenannten „Just Transition“ nachzukommen, einer Form der internationalen Solidarität. Es erfordert einen grundlegenden Wandel in Politik und Wirtschaft, um strukturelle und institutionelle Abhängigkeiten vom Wirtschaftswachstum zu beseitigen.
Um Konsum und Produktion ausreichend herunterzufahren, werden aus der Postwachstums-Bewegung folgende konkrete politische Veränderungen vorgeschlagen: strenge Kohlenstoffsteuern, Umverteilung von Vermögen und Einkommen durch nationale und internationale Besteuerung, Regelungen für Höchst- und Mindesteinkommen, eine Garantie für ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine universelle Grundversorgung.15,16,17 Diese Maßnahmen hätten wahrscheinlich auch einen erheblichen Zusatznutzen für die Gesundheit.
Box 1. Schlüsselkonzepte
Planetare Gesundheit, bezieht sich auf das Erreichen des höchstmöglichen Standards für Gesundheit, Wohlbefinden und Gleichheit. Dabei werden zum einen die menschlichen Systeme berücksichtigt – politisch, wirtschaftlich und sozial –, da sie die Zukunft der Menschheit gestalten. Zum anderen werden die natürlichen Systeme der Erde mit einbezogen, die die sicheren Umweltgrenzen definieren innerhalb derer sich die Menschheit entfalten kann.18
Die Donut-Ökonomie ist ein visueller Rahmen für eine Allgemeinwohlökonomie – geformt wie ein Donut oder Rettungsring – der das Konzept der planetaren Grenzen mit dem notwendigen gesellschaftlichen Fundament zusammenführt.19
Strategische Perspektiven für die Transformation im Gesundheitssystem
Eine Transformation des Gesundheitssystems setzt voraus, dass wir mit einer werteorientierten Zukunftsperspektive fragen: Welche Art von Gesundheitssystem benötigen wir in 25 Jahren, wenn wir die ökologischen Grenzen einhalten und die soziale Grundversorgung aufrechterhalten wollen? Welche Entwicklungen wirken sich wahrscheinlich auf die Dynamiken des Gesundheitssystems und dessen Komponenten aus? Solch eine missionsorientierte Perspektive hilft uns, eine Vision dafür zu entwickeln, wie ein Gesundheitssystem transformiert werden kann. Von dieser Vision aus können Handlungsmöglichkeiten für die Gegenwart abgeleitet werden. Zudem können hierüber die Prozesse, Akteur:innen und politische Entscheidungen identifiziert werden, die für die Verwirklichung einer solchen transformativen Vision nötig wären. Als Grundlage dafür hat das „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ folgende Grundwerte und Prinzipien der Postwachstums-Bewegung identifiziert. Sie zeigen wie eine Gesellschaft, einschließlich ihres Gesundheitssystems und ihrer Wirtschaft, im Jahr 2048 funktionieren könnte: durch Bedürfnisorientierung, Demokratie, Gestaltbarkeit, Selbstbestimmung und Freiheit, Sicherheit, Solidarität, Vielfalt und Vorsorge.20
Unabhängig von einer Vision für das deutsche Gesundheitssystem im Jahr 2048, ist es wahrscheinlich, dass in Zukunft folgende Entwicklungen und Trends eintreten werden21:
- Höchstwahrscheinlich werden weniger materielle Ressourcen und Energie für medizinische Verfahren, Technologien, Pharmazeutika und Infrastruktur zur Verfügung stehen.
- Wegen begrenzter Ressourcen ist es wahrscheinlich, dass gesellschaftliche und technische Komplexität insgesamt abnimmt. Dies könnte dazu führen, dass auch die Gesundheitssysteme an Komplexität verlieren. Z.B. könnte es zu einem Trend weg von großen Krankenhauseinrichtungen hin zu einer Organisationsform von kleineren und stärker miteinander vernetzten Gesundheitszentren für Primärversorgung kommen.
- Eine Rückkehr zu einer stärker ortsgebundenen Lebensweise, da Transportkosten steigen und die lokale Produktion zunimmt.
- Abhängig von Standort und Kontext wird es weniger Möglichkeiten für die Ausweitung der Gesundheitsversorgung geben.
Solche Entwicklungen werfen viele Fragen darüber auf, wie das momentane Gesundheitssystem finanziert und in ein dynamisches Modell mit robusten Komponenten überführt werden kann. In ein Modell, in dem integrierte Grundversorgung und genügend Personal zu Verfügung steht, das gleichzeitig auf die medizinischen, sozialen und pflegerischen Bedürfnisse eingeht.22 Diese weniger komplexe Versorgung, die vor allem in ambulanten Settings stattfindet, könnte zu geringeren Umweltbelastungen führen und den Gesundheitssektor in die Lage versetzen, das Ziel der Klimaneutralität schneller zu erreichen. Die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung hat sich kürzlich, mit Blick auf den Personalmangel und die knappen finanziellen Spielräume, für gesetzliche Rahmenbedingungen ausgesprochen, die es ermöglichen sollen, mehr stationäre Behandlungen durch ambulante Leistungen in Tageskliniken zu ersetzen.23 Solche Forderungen sind gleichzeitig auch ein erster Schritt hin zu einem weniger ressourcenintensiven Gesundheitssystem. Darüber hinaus sollte neben der kurativen und biomedizinischen Ausrichtung des Gesundheitssystems anteilig Raum für andere Formen der Gesundheitsversorgung geschaffen werden. Zudem müssen Anreizsysteme für Investitionen in Gesundheitsförderung, Umweltschutz, nachhaltige Ernährung, Sozialfürsorge und gute Arbeitsbedingungen sowie in Rehabilitations- und Gesundheitsförderungsprogramme nach chronischer Erkrankung (wie z.B. Long-Covid) entwickelt werden.
Box 2. Erläuterungen gängiger Wirtschaftsmodelle zur Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung21
Grünes Wachstum: Der Anstieg der Wirtschaftsleistung geht mit einer kontinuierlichen Effizienzsteigerung einher, sodass der ökologische Fußabdruck insgesamt geringer wird.
Gemeinwohlökonomie: Bietet die Möglichkeit einen positiven Kreislauf zu schaffen, in dem das Wohlergehen der Bürger:innen zu wirtschaftlichem Wohlstand, Stabilität und Widerstandsfähigkeit führt. Die Gemeinwohlökonomie sieht ein Wachstumsmodell vor, das von Grund auf gerecht und nachhaltig ist.
Kreislaufwirtschaft (z.B. Doughnut Ökonomie): Hat weder positives noch negatives Wirtschaftswachstum als Ziel, sondern strebt vielmehr danach das menschliche Allgemeinwohl zu maximieren, ohne dadurch ein definiertes Höchstmaß an Konsum und Produktion von natürlichen Ressourcen zu überschreiten.
Degrowth: Verringerung der gesamten Wirtschaftsaktivität auf ein materielles Maß und einen Fußabdruck, die die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Degrowth kann freiwillig erfolgen (durch bewusstes Schrumpfen) oder unfreiwillig (in Folge von Schocks und Krisen in Form einer Rezession).
3
Der Weg in die Zukunft: eine pflegeorientierte Postwachstums-Transformation
“Tätigkeiten im Rahmen von Care Commons – der Vergesellschaftung von Pflegearbeit – sind Vorboten einer sozial-ökologischen Transformation, die uns über die Wachstumsgesellschaft hinausführt.”
Der Weg in die Zukunft führt nicht nur über die Umgestaltung des formalen Gesundheitssystems. Bei dem Versuch Volkswirtschaften und Gesellschaften auf Grundlage von gegenseitiger Fürsorge, Allgemeinwohl und Gleichberechtigung zu errichten, kann die Postwachstums-Bewegung viel von feministischen Überlegungen rund um das Konzept der Care-Arbeit, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der gegenseitigen Fürsorge, lernen. Dieses Konzept bezieht sich auf die individuelle und gemeinschaftliche Fähigkeit, Bedingungen zu schaffen, die es der großen Mehrheit der Menschen zusammen mit allen anderen Lebewesen ermöglicht, sich im Einklang mit dem Planeten zu entfalten.24 Durch den Fokus auf Care-Arbeit kann sich die Postwachstums-Idee von einem „negativen“ Programm der Reduktion und des Verzichts auf Produktion und Konsum, in ein Transformationsprojekt entwickeln, das lebensbejahend ist und das Allgemeinwohl von Mensch und Umwelt in den Vordergrund stellt.25
Solch eine Postwachstums-Transformation erfordert zunächst eine Verbreitung und Stärkung von Initiativen, die bereits innerhalb einer wachstumsorientierten Gesellschaft bestehen. Hier ist insbesondere das Beispiel der sogenannten „Commons“ hervorzuheben. Commons bedeutet, dass sich eine Gemeinschaft zusammen um eine gemeinsame Ressource oder ein gemeinsames Gut kümmert, ohne das marktwirtschaftliche oder staatliche Akteur:innen einen bedeutenden Einfluss haben. In Commons engagieren sich Bürger:innen und haben selbst die Kontrolle über die Verwaltung von Ressourcen oder Bereiche wie Energie, Nahrung, Wohnraum, oder auch Gesundheitsversorgung, Internet und Wissen. Diese Art der Selbstorganisation, die sich auf Fürsorge konzentriert, kann als „Care Commons“ bezeichnet werden. Die Neuausrichtung unserer Wirtschaft auf Tätigkeiten der gegenseitigen Fürsorge bedeutet zugleich eine Abkehr von Handlungsweisen die primär auf monetäre Transaktionen ausgerichtet sind. Ein System, das die Bürger:innen dazu anregt, sich für den Erhalt des Wohlstands in ihrer lokalen Gemeinschaft verantwortlich zu fühlen, unterscheidet sich grundlegend von einem System, das Individualität und materielle Produktivität fördert. Somit sind Tätigkeiten im Rahmen von Care Commons Vorboten einer sozial-ökologischen Transformation, die uns über die Wachstumsgesellschaft hinausführt.25
Box 3. Beispiele für Postwachstums- Gesundheitsdienste und ‑Pflegeeinrichtungen
Das Poliklinik Syndikat ist ein Zusammenschluss von Projekten, die sich zur Aufgabe gemacht haben, solidarische Gesundheitszentren zu entwickeln und zu betreiben. Auf diese Weise will das Syndikat der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenwirken und sich für eine gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen. Das GesundheitsKollektiv Berlin und die Poliklinik Veddel Hamburg sind Teil dieses
Zusammenschlusses.26
Commoning Care & Collective Power ist ein Beispiel für Commons in der Kinderbetreuung und für die Mikropolitik der kommunalen Demokratisierung in Barcelona. Es ist eine Erfolgsgeschichte darüber, wie sich Mütternetzwerke, kommunale Kindertagesstätten, mächtige Netzwerke und Infrastrukturen gegenseitiger Fürsorge im Stadtteil Poble Sec entwickelt haben.27
Politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die von einer Vision der Planetaren Gesundheit geprägt sind, sollten somit darauf ausgerichtet sein, die Care-Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen. Das bedeutet, dass der Lebensunterhalt der Menschen von Lohnarbeit entkoppelt wird, insbesondere dort wo sich ihr ausbeuterischer Charakter zeigt. Realisiert werden könnte dies beispielsweise durch eine verkürzte Arbeitswoche oder ein sogenanntes Fürsorgeeinkommen. Das wäre insbesondere für das deutsche Gesundheitssystem wichtig, da dessen Finanzierung stark von Beschäftigung abhängt. Außerdem muss, wenn der Gesundheitssektor diesen Wandel vorantreiben soll, die Aus- und Weiterbildung von Medizin- und Gesundheitsberufen neu ausgerichtet werden und sich mit den ökologischen, sozialen und politischen Einflussfaktoren auf Gesundheit befassen.
Die Grenzen des Wachstums und was danach kommt
50 Jahre nachdem der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht hat28, läuft uns die Zeit davon – und die politischen und unternehmerischen Interessen sind nicht auf unserer Seite. Sie verteidigen Wachstum und sind nach wie vor tief in den Gesundheitssystemen verankert. Eine pflegeorientierte Postwachstums-Transformation des deutschen und anderer europäischer Gesundheitssysteme als Teil einer umfassenderen wirtschaftlichen Transformation würde es uns ermöglichen, die tödliche soziale und ökologische Sackgasse, in der wir uns befinden, zu überwinden. Eine klare Vision von einer Gemeinwohlökonomie innerhalb planetarer Grenzen sollte die Entwicklung zukunftsfähiger Gesundheitssysteme leiten und dabei auf den Grundprinzipien der internationalen Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut sein. Wir sollten uns gegen das Mantra „There is no alternative“ („Es gibt keine Alternative“) und gegen die Behauptung, ein Gesundheitssystem ohne Wirtschaftswachstum sei eine politische Unmöglichkeit, richten. Denn: „Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist bereits im Entstehen. An einem stillen Tag kann ich sie atmen hören.”29
Offene Fragen
Um die Diskussion und den Übergang zu einem pflegeorientierten und vom Wirtschaftswachstum unabhängigen Gesundheitssystem voranzutreiben, müssen folgende Fragen beantwortet werden:
- Unwirtschaftliches Wachstum in der Gesundheitsversorgung:
Was sind die Merkmale des unwirtschaftlichen Wachstums im deutschen Gesundheitssektor und inwieweit sind sie problematisch? - Prioritäten und Grenzen des Gesundheitssystems:
Was sind die Folgen eines Gesundheitssystems, das sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, anstelle alles zu tun, was prinzipiell möglich ist? - Eine Vision für das Gesundheitssystem im Jahr 2048:
Was wären die Werte und Prinzipien einer zukünftigen Vision für das deutsche Gesundheitssystem? Wie können wir im Rahmen eines inklusiven Dialogs strategische Perspektiven für das Gesundheitssystem im Jahr 2048 entwickeln und fördern? Was sind auf dem Weg zu einem auf Care-Arbeit basierenden Gesundheitssystems die fördernden und hindernden Faktoren?
- Das Potential des Gesundheitssystems:
Gibt es bereits Beispiele für integrierte PostwachstumsAnsätze im deutschen oder in anderen Gesundheitssystemen? Welche Lehren lassen sich aus diesen ziehen? Besteht hierbei das Potential einer Skalierung? - Vernetzte Transformation:
In welchem Ausmaß sind Akteur:innen des Gesundheitssystems mit postwachstums-orientierten Debatten, Denkweisen und Akteur:innen außerhalb des Gesundheitssektors vernetzt? Wo ist der politische, fachliche und gesellschaftlichen Raum für Diskussionen um eine PostwachstumsTransformation voranzubringen?30
Über den Autor
Dr. Remco van de Pas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Planetary Health Policy (CPHP). Seine Arbeit konzentriert sich auf planetare und globale Gesundheitspolitik, ihre politischen Ökonomien sowie Außenpolitik. Dabei legt er einen besonderen Fokus auf die Stärkung der Gesundheitssysteme, Gesundheitsfinanzierung und Beschäftigung, Gemeinwohlökonomie, sozial-ökologische Einflussfaktoren von Gesundheit, Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens sowie Globalisierung und ihre Auswirkungen auf Gleichberechtigung.
Dies ist der erste Teil einer Reihe von Impulsen, die neue Themen vorstellen und sich der Frage widmen, wie Politik gestaltet werden kann, damit das Gesundheitssystem innerhalb planetarer Grenzen bleibt. Sie sollen als Denkanstöße dienen, die zum Nachdenken und Reflektieren anregen.
Weitere Leseempfehlungen
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- Jackson, T. (2021). Post growth: Life after capitalism. John Wiley & Sons.
- Hickel, J. (2020). Less is more: How degrowth will save the world. Random House.
- Van Woerden, W. et al. (2021). Living well on a finite planet. Building a caring world beyond growth. Commons Network. https://www.commonsnetwork.org/2021/11/19/new-report-out-now-building-a-caring-world-beyond-growth/
Literatur
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https://pillars-of-health.eu/resource/country-report-on-health-worker-migration-and-mobility-in-germany/ - Dieterich, A. et al. (Eds.). (2019). Geld im Krankenhaus: eine kritische Bestandsaufnahme des DRG-Systems. Springer-Verlag.
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Zitationsvorschlag:
Van de Pas R. (2023). Warum die Transformation zu einem wachstumsunabhängigen Gesundheits- und Wirtschaftssystem nötig ist. T‑01–2023. Berlin: Centre for Planetary Health Policy. Abrufbar unter:
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