War­um die Trans­for­ma­ti­on zu einem wachs­tums­un­ab­hän­gi­gen Gesund­heits- und Wirt­schafts­sys­tem nötig ist

“Die Ent­wick­lung zukünf­ti­ger Gesund­heits­sys­te­me muss von der Visi­on einer all­ge­mein­wohl­ori­en­tier­ten Wirt­schaft inner­halb der pla­ne­ta­ren Gren­zen gelei­tet sein, die auf inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät und sozia­ler Gerech­tig­keit beruht.”

Rem­co van de Pas

PDF

Think Pie­ce T‑01–23
DOI: 10.5281/zenodo.7554101

Wie in den meis­ten euro­päi­schen Län­dern ist das deut­sche Gesund­heits­sys­tem Teil eines Wirt­schafts­sys­tems, dem es intrin­sisch an gesund­heit­li­cher, öko­lo­gi­scher und sozia­ler Nach­hal­tig­keit man­gelt. Der deut­sche Gesund­heits­sek­tor ist für 5,2 % der natio­na­len Treib­haus­gas­emis­sio­nen ver­ant­wort­lich.1 2011 muss­ten 51 von 1.000 Patient:innen mit Dia­be­tes ins Kran­ken­haus ein­ge­lie­fert wer­den. Damit hat Deutsch­land eine der höchs­ten Auf­nah­me­ra­ten im euro­päi­schen Ver­gleich, bei einer Erkran­kung, die durch ambu­lan­te Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men leicht zu ver­mei­den wäre.2 Seit dem Jahr 2013 ist der Anteil aus­län­di­scher Pfle­ge­kräf­te von 5,8 % auf 11 % gestie­gen, was als eine Form des Bra­in­drains aus dem glo­ba­len Süden ange­se­hen wer­den kann.3 In die­sem Impuls zeigt Dr. Rem­co van de Pas, wie die­se Bei­spie­le mit­ein­an­der zusam­men­hän­gen.

Das Durch­schnitts­al­ter der deut­schen Bevöl­ke­rung wächst ste­tig, Mehr­fa­ch­er­kran­kun­gen und spe­zi­fi­sche Gesund­heits­be­dar­fe wer­den dadurch immer wahr­schein­li­cher und es ist zukünf­tig mit einem sprung­haf­ten Anstieg der Nach­fra­ge nach Gesund­heits­dienst­leis­tun­gen zu rech­nen. Die­se Her­aus­for­de­run­gen wer­den durch ein Gesund­heits­sys­tem ver­stärkt, das einer­seits his­to­risch von den Grund­sät­zen der Soli­da­ri­tät und Sub­si­dia­ri­tät geprägt ist, ande­rer­seits aber auch von wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen und expan­si­vem Wachs­tum getrie­ben wird. Solch ein Sys­tem führt zwangs­läu­fig zu nega­ti­ven Begleit­erschei­nun­gen wie Umwelt­ver­schmut­zung, unglei­chem Zugang zu Ver­sor­gung, schlech­ter Ver­sor­gungs­qua­li­tät und Über­kon­sum medi­zi­ni­scher Leis­tun­gen. Was aktu­ell jedoch zu wenig in den Blick genom­men wird: All die­se Begleit­erschei­nun­gen könn­ten zu einem gewis­sen Grad ver­mie­den wer­den.

Die nicht nach­hal­ti­ge Öko­no­mie des deut­schen Gesund­heits­sys­tems

Das deut­sche Gesund­heits­sys­tem wird über ein sozia­les Kran­ken­ver­si­che­rungs­sys­tem finan­ziert und gilt als eines der ältes­ten und soli­des­ten Gesund­heits­fi­nan­zie­rungs­mo­del­le der Welt. Die Bei­trags­zah­lun­gen, steu­er­li­chen Trans­fers und Funk­ti­ons­wei­sen basie­ren auf einer expan­si­ven Wirt­schafts­lo­gik. Das heißt: Je mehr Beschäf­tig­te, des­to höhe­re Ein­nah­men in Form von Kran­ken­kas­sen­bei­trä­gen. Ein Bei­spiel die­ser Öko­no­mi­sie­rung ist der stra­te­gi­sche Ein­kauf von Kran­ken­haus­leis­tun­gen und die Ein­füh­rung des Fall­pau­scha­len­sys­tems vor etwa 20 Jah­ren.4 Die Robust­heit die­ses Gesund­heits­fi­nan­zie­rungs­mo­dells ist gleich­zei­tig auch sei­ne Achil­les­fer­se. Das Sys­tem funk­tio­niert und hat sogar kurz­fris­ti­ge Vor­tei­le, solan­ge es Wirt­schafts­wachs­tum gibt (gemes­sen als Anstieg des Brut­to­in­lands­pro­dukts [BIP]) und die Gesamt­be­schäf­ti­gungs­quo­te hoch ist. In Zei­ten einer Rezes­si­on, sozi­al­po­li­ti­scher Insta­bi­li­tät oder gesund­heit­li­cher Kri­sen (z. B. wäh­rend der Covid-19-Pan­de­mie) müs­sen gro­ße Men­gen öffent­li­cher Gel­der in Form von Ret­tungs­schir­men bereit­ge­stellt wer­den, um das Sys­tem auf­recht­zu­er­hal­ten. Die Reak­ti­on auf die Covid-19-Pan­de­mie zeigt, dass dies in einem wohl­ha­ben­den Land wie Deutsch­land mög­lich ist. Den­noch soll­ten sol­che Sys­tem­schocks nicht zu einem Dau­er­zu­stand wer­den (wie es bspw. durch die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels zu erwar­ten ist), da dies die wirt­schaft­li­che Basis der Gesund­heits­fi­nan­zie­rung gefähr­det.

1

Unwirt­schaft­li­ches Wachs­tum

“Unwirt­schaft­li­ches Wachs­tums […] liegt dann vor, wenn Pro­duk­ti­ons­stei­ge­run­gen auf Kos­ten von Res­sour­cen und All­ge­mein­wohl gehen, die mehr wert sind als die pro­du­zier­ten Güter.”

Die wirt­schaft­li­chen Anrei­ze im Gesund­heits­sys­tem, durch die pri­va­te Inves­ti­tio­nen, medi­zi­ni­sches Unter­neh­mer­tum und Expan­si­on belohnt wer­den, zie­hen nega­ti­ve Fol­gen nach sich. Hier­zu zählt der Fokus auf medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen, noch ver­stärkt durch Über­dia­gnos­tik, wäh­rend gute Gesund­heits- und Sozi­al­po­li­tik für Prä­ven­ti­on und Gesund­heits­för­de­rung ver­nach­läs­sigt wird. Es besteht eine Ten­denz zur Medi­ka­li­sie­rung von Gesund­heits­zu­stän­den, wodurch weni­ger öffent­li­che Mit­tel für die Kern­auf­ga­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens bereit­ste­hen – für Prä­ven­ti­on und Gesund­heits­för­de­rung.5
Auf­grund die­ser Unter­fi­nan­zie­rung aus öffent­li­chen Finanz­mit­teln sind kom­pe­ten­tes Per­so­nal und die grund­le­gen­de Infra­struk­tur im Gesund­heits­sys­tem mit der Zeit immer weni­ger in der Lage, qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Pri­mär­ver­sor­gung, Gesund­heits­schutz und die För­de­rung von Gesund­heit und All­ge­mein­wohl zu gewähr­leis­ten.6 Die­ses Phä­no­men kann als „unwirt­schaft­li­ches Wachs­tum“ bezeich­net wer­den. Es liegt dann vor, wenn Pro­duk­ti­ons­stei­ge­run­gen auf Kos­ten von Res­sour­cen und All­ge­mein­wohl gehen, die mehr wert sind als die pro­du­zier­ten Güter.7 In der Gesund­heits­ver­sor­gung wird dies anhand der Aus­wei­tung des Gesund­heits­sys­tems deut­lich. Sie ver­ur­sacht so hohe sozia­le und öko­lo­gi­sche Kos­ten, dass sie den gewon­ne­nen Zusatz­nut­zen über­stei­gen.8 Auf glo­ba­ler Ebe­ne wei­sen wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se dar­auf hin, dass die­ses unwirt­schaft­li­che Wachs­tum bei einem Aus­bau des Gesund­heits­we­sens in drei­fa­cher Hin­sicht pro­ble­ma­tisch ist:

  1. Das Aus­maß ver­meid­ba­rer iatro­ge­ner Schä­den, die durch die moder­ne Gesund­heits­ver­sor­gung ent­ste­hen, ist beträcht­lich und gefähr­det die Patient:innensicherheit. Schät­zun­gen aus 14 Län­dern mit hohen Ein­kom­men zei­gen, dass zwi­schen 2,9 %und 16,6 % aller Kran­ken­haus­ein­wei­sun­gen mit Kom­pli­ka­tio­nen ein­her­ge­hen.8
  2. Es gibt immer mehr Hin­wei­se auf eine Über­ver­sor­gung im Gesund­heits­we­sen. Stu­di­en deu­ten dar­auf hin, dass etwa 10–30 % aller Gesund­heits­leis­tun­gen in Län­dern mit mitt­le­rem und hohem Ein­kom­men als Über­ver­sor­gung gel­ten könn­ten. Dabei han­delt es sich um eine Kom­bi­na­ti­on aus Über­be­hand­lun­gen, Über­dia­gno­sen, min­der­wer­ti­ger Ver­sor­gung und Phar­ma­ko­lo­gi­sie­rung.8
  3. Die Umwelt­aus­wir­kun­gen des unwirt­schaft­li­chen Wachs­tums der Gesund­heits­sys­te­me sind beträcht­lich. Welt­weit ent­fal­len bis zu 4–6 % der Treib­haus­gas­emis­sio­nen auf das Gesund­heits­sys­tem und auf die damit ver­bun­de­ne Pro­duk­ti­on und den Ver­brauch von medi­zi­ni­schen Pro­duk­ten8. Dar­über hin­aus wer­den Rück­stän­de von Arz­nei­mit­teln (z.B. Anti­bio­ti­ka), ande­re gif­ti­ge Abfall­pro­duk­te und Kunst­stof­fe in die Umwelt frei­ge­setzt. Hier­aus könn­te ein Teu­fels­kreis ent­ste­hen, bei dem ver­meid­ba­re Gesund­heits­schä­den zu einer „irr­tüm­li­chen Nach­fra­ge“ nach Gesund­heits­für­sor­ge füh­ren, wobei unnö­ti­ge und qua­li­ta­tiv min­der­wer­ti­ge Pfle­ge zu einem wei­te­ren Gesund­heits­ri­si­ko für die Patient:innen wird.

Füh­ren mehr Gesund­heits­aus­ga­ben zu mehr Gesund­heit?

Die Wachs­tums- und Expan­si­ons­ten­den­zen des Gesund­heits­sys­tems zei­gen sich in den Zah­len der Gesund­heits­aus­ga­ben der letz­ten Jah­re. 2018 gab Deutsch­land rund 390,6 Mrd.€ für Gesund­heit aus, was 11,7 % des BIP ent­spricht.9 Durch die hohen Aus­ga­ben wäh­rend der Covid-19-Pan­de­mie und ange­sichts des all­ge­mei­nen Wirt­schafts­ab­schwungs stieg der Anteil der Gesund­heits­aus­ga­ben am BIP in den OECD-Län­dern von 8,8 % im Jahr 2019 auf 9,7 % im Jahr 2020.10 Deutsch­land gehört damit in Euro­pa zu den Län­dern mit den höchs­ten Gesund­heits­aus­ga­ben (Abbil­dung 1). Der pro­zen­tua­le Anstieg der Gesund­heits­aus­ga­ben war in den letz­ten 20 Jah­ren (wie in den meis­ten west­eu­ro­päi­schen Län­dern) höher als das Wachs­tum des BIP.9 Das wirft die Fra­ge auf, ob die stei­gen­den Aus­ga­ben mit bes­se­ren Gesund­heits­er­geb­nis­sen ein­her­ge­gan­gen sind. Die Ant­wort fällt wei­test­ge­hend nega­tiv aus, wie meh­re­re Public Health Indi­ka­to­ren zei­gen. So ist kei­ne Ver­bes­se­rung in Hin­blick auf ver­meid­ba­re Kran­ken­haus­ein­wei­sun­gen oder ver­meid­ba­re Sterb­lich­keit – vor­zei­ti­ge Todes­fäl­le, die bei recht­zei­ti­ger und wirk­sa­mer Gesund­heits­ver­sor­gung nicht auf­tre­ten soll­ten – zu erken­nen.9

2

Post­wachs­tums-Alter­na­ti­ven

“Degrowth erfor­dert […] die Umkeh­rung der Pro­zes­se, die dem Wachs­tum zugrun­de lie­gen: Deakkumulation,Dekommodifizierung und Deko­lo­ni­sie­rung.”

Wirt­schafts­wachs­tum erfolgt übli­cher­wei­se durch eine Stei­ge­rung des BIP, also im Wesent­li­chen durch ein Maß für die Pro­duk­ti­on und den Ver­brauch von Gütern und Dienst­leis­tun­gen in einem bestimm­ten Land.11 Laut Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) sind BIP-Indi­ka­to­ren zwar ein weit ver­brei­te­tes, aber unge­eig­ne­tes Mit­tel um Ergeb­nis­se in Bezug auf Gesund­heit und All­ge­mein­wohl zu beur­tei­len.11 Es ist auch ein unge­eig­ne­tes Mess­in­stru­ment, um wirt­schaft­li­che Akti­vi­tä­ten zu erfas­sen, da es die ver­ur­sach­ten Kos­ten für Umwelt, Gesell­schaft und Gesund­heit (auch bekannt als wirt­schaft­li­che Exter­na­li­tä­ten) wei­test­ge­hend nicht ein­be­zieht. Zudem wer­den imma­te­ri­el­le Wer­te, wie bei­spiels­wei­se die Zufrie­den­heit am Arbeits­platz, trotz ihrer Rele­vanz nicht berück­sich­tigt.11 Um die­sem Trend ent­ge­gen­zu­wir­ken, ist eine gesell­schaft­li­che Debat­te zu fol­gen­den Fra­gen not­wen­dig:

  1. Wie kön­nen Gesund­heit und All­ge­mein­wohl geför­dert wer­den, ohne die öko­lo­gi­schen Belas­tungs­gren­zen der Erde zu über­schrei­ten?
  2. Wel­che Form von medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, öffent­li­chen Gesund­heits­sys­te­men, Sozi­al- und Pfle­ge­dienst­leis­tun­gen soll­ten prio­ri­siert und wel­che Dienst­leis­tun­gen ein­ge­stellt wer­den?

Die­se Fra­gen beinhal­ten auch Über­le­gun­gen zu den gesetz­li­chen Grund­la­gen des deut­schen Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­tems, wie Zugang, Qua­li­tät und Finan­zie­rung.12 Sie sol­len zu wei­te­ren Dis­kus­sio­nen anre­gen, wie ein kli­ma­neu­tra­les und schock­re­sis­ten­tes Gesund­heits­sys­tem inner­halb einer Kreis­lauf­wirt­schaft, wie bei­spiels­wei­se der „Donut-Öko­no­mie“, aus­se­hen könn­te.

Bei Post­wachs­tums-Stra­te­gien, die auf dem Kon­zept der „Donut-Öko­no­mie“ oder der Degrowth-Bewe­gung beru­hen, geht es nicht um die Ver­rin­ge­rung des BIP als Selbst­zweck, son­dern viel­mehr um die Not­wen­dig­keit, den Ener­gie- und Mate­ri­al­ver­brauch zu ver­rin­gern.13 Auch wenn eine Reduk­ti­on des Kon­sums wahr­schein­lich zu einem Rück­gang des BIP führt, befas­sen sich Post­wachs­tums-Stra­te­gien auch mit der Umstruk­tu­rie­rung von Gesell­schaf­ten, um den Lebens­un­ter­halt der Men­schen trotz eines Rück­gangs der gesamt­wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tät auf demo­kra­ti­sche Wei­se zu sichern.13 Hickels, einer der füh­ren­den Öko­no­men der Post­wachs­tums-Bewe­gung, stellt klar, dass „Wachs­tum“ im Dis­kurs zu einer Art Pro­pa­gan­da­be­griff gewor­den ist, da er nach etwas Natür­li­chem und Posi­ti­vem klingt. Tat­säch­lich ist Wirt­schafts­wachs­tum aber his­to­risch gese­hen vor allem ein Pro­zess der Akku­mu­la­ti­on durch Eli­ten, der Kom­mo­di­fi­zie­rung von Gemein­gü­tern und des Aneig­nens mensch­li­cher Arbeit und natür­li­cher Res­sour­cen – ein Vor­gang, der häu­fig kolo­nia­le Cha­rak­ter­zü­ge trägt.14 Die­ser Pro­zess, der in der Regel zer­stö­re­risch für mensch­li­che Gemein­schaf­ten und Natur ist, wird mit dem Begriff „Wachs­tum“ beschö­nigt. Die Degrowth-Bewe­gung for­dert daher die Umkeh­rung die­ser Vor­gän­ge, die dem Wachs­tum zugrun­de lie­gen: Deak­ku­mu­la­ti­on, Dekom­mo­di­fi­zie­rung und Deko­lo­ni­sie­rung.14

Wenn die Gesund­heit von Men­schen und Umwelt heu­te und in Zukunft geschützt wer­den soll, kön­nen wir es uns nicht leis­ten, wei­ter­hin auf ein extrak­ti­ves Wirt­schafts­mo­dell zu set­zen. Denn genau die­ses Modell hat Gesell­schaf­ten über­haupt erst in die glo­bal ver­floch­te­nen sozia­len und öko­lo­gi­schen Kri­sen geführt. Wenn wir uns auf die Zie­le von Pla­ne­ta­rer Gesund­heit zube­we­gen wol­len, brau­chen wir einen radi­kal ande­ren Ansatz für die Orga­ni­sa­ti­on unse­rer Volks­wirt­schaf­ten und Gesell­schaf­ten, ein­schließ­lich ihrer Gesund­heits­sys­te­me. Im Wesent­li­chen bedeu­tet dies, den Ener­gie- und Res­sour­cen­ver­brauch in Län­dern mit hohem Ein­kom­men zu redu­zie­ren und gleich­zei­tig zu einer Wirt­schaft über­zu­ge­hen, die auf die Befrie­di­gung mensch­li­cher Bedürf­nis­se abzielt. Es bedeu­tet auch, dass wir gemein­sam Ver­ant­wor­tung für die Grund­be­dürf­nis­se über­neh­men, die in Län­dern mit nied­ri­ge­ren Ein­kom­men nicht erfüllt wer­den. Dies ist zwin­gend not­wen­dig, um den For­de­run­gen nach einer soge­nann­ten „Just Tran­si­ti­on“ nach­zu­kom­men, einer Form der inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät. Es erfor­dert einen grund­le­gen­den Wan­del in Poli­tik und Wirt­schaft, um struk­tu­rel­le und insti­tu­tio­nel­le Abhän­gig­kei­ten vom Wirt­schafts­wachs­tum zu besei­ti­gen.

Um Kon­sum und Pro­duk­ti­on aus­rei­chend her­un­ter­zu­fah­ren, wer­den aus der Post­wachs­tums-Bewe­gung fol­gen­de kon­kre­te poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen vor­ge­schla­gen: stren­ge Koh­len­stoff­steu­ern, Umver­tei­lung von Ver­mö­gen und Ein­kom­men durch natio­na­le und inter­na­tio­na­le Besteue­rung, Rege­lun­gen für Höchst- und Min­dest­ein­kom­men, eine Garan­tie für ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men und eine uni­ver­sel­le Grund­ver­sor­gung.15,16,17 Die­se Maß­nah­men hät­ten wahr­schein­lich auch einen erheb­li­chen Zusatz­nut­zen für die Gesund­heit.

Box 1. Schlüs­sel­kon­zep­te

Pla­ne­ta­re Gesund­heit, bezieht sich auf das Errei­chen des höchst­mög­li­chen Stan­dards für Gesund­heit, Wohl­be­fin­den und Gleich­heit. Dabei wer­den zum einen die mensch­li­chen Sys­te­me berück­sich­tigt – poli­tisch, wirt­schaft­lich und sozi­al –, da sie die Zukunft der Mensch­heit gestal­ten. Zum ande­ren wer­den die natür­li­chen Sys­te­me der Erde mit ein­be­zo­gen, die die siche­ren Umwelt­gren­zen defi­nie­ren inner­halb derer sich die Mensch­heit ent­fal­ten kann.18

Die Donut-Öko­no­mie ist ein visu­el­ler Rah­men für eine All­ge­mein­wohl­öko­no­mie – geformt wie ein Donut oder Ret­tungs­ring – der das Kon­zept der pla­ne­ta­ren Gren­zen mit dem not­wen­di­gen gesell­schaft­li­chen Fun­da­ment zusam­men­führt.19

Stra­te­gi­sche Per­spek­ti­ven für die Trans­for­ma­ti­on im Gesund­heits­sys­tem

Eine Trans­for­ma­ti­on des Gesund­heits­sys­tems setzt vor­aus, dass wir mit einer wer­te­ori­en­tier­ten Zukunfts­per­spek­ti­ve fra­gen: Wel­che Art von Gesund­heits­sys­tem benö­ti­gen wir in 25 Jah­ren, wenn wir die öko­lo­gi­schen Gren­zen ein­hal­ten und die sozia­le Grund­ver­sor­gung auf­recht­erhal­ten wol­len? Wel­che Ent­wick­lun­gen wir­ken sich wahr­schein­lich auf die Dyna­mi­ken des Gesund­heits­sys­tems und des­sen Kom­po­nen­ten aus? Solch eine mis­si­ons­ori­en­tier­te Per­spek­ti­ve hilft uns, eine Visi­on dafür zu ent­wi­ckeln, wie ein Gesund­heits­sys­tem trans­for­miert wer­den kann. Von die­ser Visi­on aus kön­nen Hand­lungs­mög­lich­kei­ten für die Gegen­wart abge­lei­tet wer­den. Zudem kön­nen hier­über die Pro­zes­se, Akteur:innen und poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen iden­ti­fi­ziert wer­den, die für die Ver­wirk­li­chung einer sol­chen trans­for­ma­ti­ven Visi­on nötig wären. Als Grund­la­ge dafür hat das „Kon­zept­werk Neue Öko­no­mie“ fol­gen­de Grund­wer­te und Prin­zi­pi­en der Post­wachs­tums-Bewe­gung iden­ti­fi­ziert. Sie zei­gen wie eine Gesell­schaft, ein­schließ­lich ihres Gesund­heits­sys­tems und ihrer Wirt­schaft, im Jahr 2048 funk­tio­nie­ren könn­te: durch Bedürf­nis­ori­en­tie­rung, Demo­kra­tie, Gestalt­bar­keit, Selbst­be­stim­mung und Frei­heit, Sicher­heit, Soli­da­ri­tät, Viel­falt und Vor­sor­ge.20

Unab­hän­gig von einer Visi­on für das deut­sche Gesund­heits­sys­tem im Jahr 2048, ist es wahr­schein­lich, dass in Zukunft fol­gen­de Ent­wick­lun­gen und Trends ein­tre­ten wer­den21:

  1. Höchst­wahr­schein­lich wer­den weni­ger mate­ri­el­le Res­sour­cen und Ener­gie für medi­zi­ni­sche Ver­fah­ren, Tech­no­lo­gien, Phar­ma­zeu­ti­ka und Infra­struk­tur zur Ver­fü­gung ste­hen.
  2. Wegen begrenz­ter Res­sour­cen ist es wahr­schein­lich, dass gesell­schaft­li­che und tech­ni­sche Kom­ple­xi­tät ins­ge­samt abnimmt. Dies könn­te dazu füh­ren, dass auch die Gesund­heits­sys­te­me an Kom­ple­xi­tät ver­lie­ren. Z.B. könn­te es zu einem Trend weg von gro­ßen Kran­ken­haus­ein­rich­tun­gen hin zu einer Orga­ni­sa­ti­ons­form von klei­ne­ren und stär­ker mit­ein­an­der ver­netz­ten Gesund­heits­zen­tren für Pri­mär­ver­sor­gung kom­men.
  3. Eine Rück­kehr zu einer stär­ker orts­ge­bun­de­nen Lebens­wei­se, da Trans­port­kos­ten stei­gen und die loka­le Pro­duk­ti­on zunimmt.
  4. Abhän­gig von Stand­ort und Kon­text wird es weni­ger Mög­lich­kei­ten für die Aus­wei­tung der Gesund­heits­ver­sor­gung geben.

Sol­che Ent­wick­lun­gen wer­fen vie­le Fra­gen dar­über auf, wie das momen­ta­ne Gesund­heits­sys­tem finan­ziert und in ein dyna­mi­sches Modell mit robus­ten Kom­po­nen­ten über­führt wer­den kann. In ein Modell, in dem inte­grier­te Grund­ver­sor­gung und genü­gend Per­so­nal zu Ver­fü­gung steht, das gleich­zei­tig auf die medi­zi­ni­schen, sozia­len und pfle­ge­ri­schen Bedürf­nis­se ein­geht.22 Die­se weni­ger kom­ple­xe Ver­sor­gung, die vor allem in ambu­lan­ten Set­tings statt­fin­det, könn­te zu gerin­ge­ren Umwelt­be­las­tun­gen füh­ren und den Gesund­heits­sek­tor in die Lage ver­set­zen, das Ziel der Kli­ma­neu­tra­li­tät schnel­ler zu errei­chen. Die Regie­rungs­kom­mis­si­on für eine moder­ne und bedarfs­ge­rech­te Kran­ken­haus­ver­sor­gung hat sich kürz­lich, mit Blick auf den Per­so­nal­man­gel und die knap­pen finan­zi­el­len Spiel­räu­me, für gesetz­li­che Rah­men­be­din­gun­gen aus­ge­spro­chen, die es ermög­li­chen sol­len, mehr sta­tio­nä­re Behand­lun­gen durch ambu­lan­te Leis­tun­gen in Tages­kli­ni­ken zu erset­zen.23 Sol­che For­de­run­gen sind gleich­zei­tig auch ein ers­ter Schritt hin zu einem weni­ger res­sour­cen­in­ten­si­ven Gesund­heits­sys­tem. Dar­über hin­aus soll­te neben der kura­ti­ven und bio­me­di­zi­ni­schen Aus­rich­tung des Gesund­heits­sys­tems antei­lig Raum für ande­re For­men der Gesund­heits­ver­sor­gung geschaf­fen wer­den. Zudem müs­sen Anreiz­sys­te­me für Inves­ti­tio­nen in Gesund­heits­för­de­rung, Umwelt­schutz, nach­hal­ti­ge Ernäh­rung, Sozi­al­für­sor­ge und gute Arbeits­be­din­gun­gen sowie in Reha­bi­li­ta­ti­ons- und Gesund­heits­för­de­rungs­pro­gram­me nach chro­ni­scher Erkran­kung (wie z.B. Long-Covid) ent­wi­ckelt wer­den.

Box 2. Erläu­te­run­gen gän­gi­ger Wirt­schafts­mo­del­le zur Ent­kopp­lung von Wirt­schafts­wachs­tum und Umwelt­be­las­tung21

Grü­nes Wachs­tum: Der Anstieg der Wirt­schafts­leis­tung geht mit einer kon­ti­nu­ier­li­chen Effi­zi­enz­stei­ge­rung ein­her, sodass der öko­lo­gi­sche Fuß­ab­druck ins­ge­samt gerin­ger wird.

Gemein­wohl­öko­no­mie: Bie­tet die Mög­lich­keit einen posi­ti­ven Kreis­lauf zu schaf­fen, in dem das Wohl­erge­hen der Bürger:innen zu wirt­schaft­li­chem Wohl­stand, Sta­bi­li­tät und Wider­stands­fä­hig­keit führt. Die Gemein­wohl­öko­no­mie sieht ein Wachs­tums­mo­dell vor, das von Grund auf gerecht und nach­hal­tig ist.

Kreis­lauf­wirt­schaft (z.B. Dough­nut Öko­no­mie): Hat weder posi­ti­ves noch nega­ti­ves Wirt­schafts­wachs­tum als Ziel, son­dern strebt viel­mehr danach das mensch­li­che All­ge­mein­wohl zu maxi­mie­ren, ohne dadurch ein defi­nier­tes Höchst­maß an Kon­sum und Pro­duk­ti­on von natür­li­chen Res­sour­cen zu über­schrei­ten.

Degrowth: Ver­rin­ge­rung der gesam­ten Wirt­schafts­ak­ti­vi­tät auf ein mate­ri­el­les Maß und einen Fuß­ab­druck, die die pla­ne­ta­ren Gren­zen nicht über­schrei­ten. Degrowth kann frei­wil­lig erfol­gen (durch bewuss­tes Schrump­fen) oder unfrei­wil­lig (in Fol­ge von Schocks und Kri­sen in Form einer Rezes­si­on).

3

Der Weg in die Zukunft: eine pfle­ge­ori­en­tier­te Post­wachs­tums-Trans­for­ma­ti­on

“Tätig­kei­ten im Rah­men von Care Com­mons – der Ver­ge­sell­schaf­tung von Pfle­ge­ar­beit – sind Vor­bo­ten einer sozi­al-öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on, die uns über die Wachs­tums­ge­sell­schaft hin­aus­führt.”

Der Weg in die Zukunft führt nicht nur über die Umge­stal­tung des for­ma­len Gesund­heits­sys­tems. Bei dem Ver­such Volks­wirt­schaf­ten und Gesell­schaf­ten auf Grund­la­ge von gegen­sei­ti­ger Für­sor­ge, All­ge­mein­wohl und Gleich­be­rech­ti­gung zu errich­ten, kann die Post­wachs­tums-Bewe­gung viel von femi­nis­ti­schen Über­le­gun­gen rund um das Kon­zept der Care-Arbeit, im Sin­ne einer ganz­heit­li­chen Betrach­tungs­wei­se der gegen­sei­ti­gen Für­sor­ge, ler­nen. Die­ses Kon­zept bezieht sich auf die indi­vi­du­el­le und gemein­schaft­li­che Fähig­keit, Bedin­gun­gen zu schaf­fen, die es der gro­ßen Mehr­heit der Men­schen zusam­men mit allen ande­ren Lebe­we­sen ermög­licht, sich im Ein­klang mit dem Pla­ne­ten zu ent­fal­ten.24 Durch den Fokus auf Care-Arbeit kann sich die Post­wachs­tums-Idee von einem „nega­ti­ven“ Pro­gramm der Reduk­ti­on und des Ver­zichts auf Pro­duk­ti­on und Kon­sum, in ein Trans­for­ma­ti­ons­pro­jekt ent­wi­ckeln, das lebens­be­ja­hend ist und das All­ge­mein­wohl von Mensch und Umwelt in den Vor­der­grund stellt.25

Solch eine Post­wachs­tums-Trans­for­ma­ti­on erfor­dert zunächst eine Ver­brei­tung und Stär­kung von Initia­ti­ven, die bereits inner­halb einer wachs­tums­ori­en­tier­ten Gesell­schaft bestehen. Hier ist ins­be­son­de­re das Bei­spiel der soge­nann­ten „Com­mons“ her­vor­zu­he­ben. Com­mons bedeu­tet, dass sich eine Gemein­schaft zusam­men um eine gemein­sa­me Res­sour­ce oder ein gemein­sa­mes Gut küm­mert, ohne das markt­wirt­schaft­li­che oder staat­li­che Akteur:innen einen bedeu­ten­den Ein­fluss haben. In Com­mons enga­gie­ren sich Bürger:innen und haben selbst die Kon­trol­le über die Ver­wal­tung von Res­sour­cen oder Berei­che wie Ener­gie, Nah­rung, Wohn­raum, oder auch Gesund­heits­ver­sor­gung, Inter­net und Wis­sen. Die­se Art der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, die sich auf Für­sor­ge kon­zen­triert, kann als „Care Com­mons“ bezeich­net wer­den. Die Neu­aus­rich­tung unse­rer Wirt­schaft auf Tätig­kei­ten der gegen­sei­ti­gen Für­sor­ge bedeu­tet zugleich eine Abkehr von Hand­lungs­wei­sen die pri­mär auf mone­tä­re Trans­ak­tio­nen aus­ge­rich­tet sind. Ein Sys­tem, das die Bürger:innen dazu anregt, sich für den Erhalt des Wohl­stands in ihrer loka­len Gemein­schaft ver­ant­wort­lich zu füh­len, unter­schei­det sich grund­le­gend von einem Sys­tem, das Indi­vi­dua­li­tät und mate­ri­el­le Pro­duk­ti­vi­tät för­dert. Somit sind Tätig­kei­ten im Rah­men von Care Com­mons Vor­bo­ten einer sozi­al-öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on, die uns über die Wachs­tums­ge­sell­schaft hin­aus­führt.25

Box 3. Bei­spie­le für Post­wachs­tums- Gesund­heits­diens­te und ‑Pfle­ge­ein­rich­tun­gen

Das Poli­kli­nik Syn­di­kat ist ein Zusam­men­schluss von Pro­jek­ten, die sich zur Auf­ga­be gemacht haben, soli­da­ri­sche Gesund­heits­zen­tren zu ent­wi­ckeln und zu betrei­ben. Auf die­se Wei­se will das Syn­di­kat der gesund­heit­li­chen Ungleich­heit ent­ge­gen­wir­ken und sich für eine gerech­te und soli­da­ri­sche Gesell­schaft ein­set­zen. Das Gesund­heits­Kol­lek­tiv Ber­lin und die Poli­kli­nik Ved­del Ham­burg sind Teil die­ses
Zusam­men­schlus­ses.26

Com­mo­ning Care & Coll­ec­ti­ve Power ist ein Bei­spiel für Com­mons in der Kin­der­be­treu­ung und für die Mikro­po­li­tik der kom­mu­na­len Demo­kra­ti­sie­rung in Bar­ce­lo­na. Es ist eine Erfolgs­ge­schich­te dar­über, wie sich Müt­ter­netz­wer­ke, kom­mu­na­le Kin­der­ta­ges­stät­ten, mäch­ti­ge Netz­wer­ke und Infra­struk­tu­ren gegen­sei­ti­ger Für­sor­ge im Stadt­teil Poble Sec ent­wi­ckelt haben.27

Poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ent­schei­dun­gen, die von einer Visi­on der Pla­ne­ta­ren Gesund­heit geprägt sind, soll­ten somit dar­auf aus­ge­rich­tet sein, die Care-Arbeit in den Mit­tel­punkt zu stel­len. Das bedeu­tet, dass der Lebens­un­ter­halt der Men­schen von Lohn­ar­beit ent­kop­pelt wird, ins­be­son­de­re dort wo sich ihr aus­beu­te­ri­scher Cha­rak­ter zeigt. Rea­li­siert wer­den könn­te dies bei­spiels­wei­se durch eine ver­kürz­te Arbeits­wo­che oder ein soge­nann­tes Für­sor­ge­ein­kom­men. Das wäre ins­be­son­de­re für das deut­sche Gesund­heits­sys­tem wich­tig, da des­sen Finan­zie­rung stark von Beschäf­ti­gung abhängt. Außer­dem muss, wenn der Gesund­heits­sek­tor die­sen Wan­del vor­an­trei­ben soll, die Aus- und Wei­ter­bil­dung von Medi­zin- und Gesund­heits­be­ru­fen neu aus­ge­rich­tet wer­den und sich mit den öko­lo­gi­schen, sozia­len und poli­ti­schen Ein­fluss­fak­to­ren auf Gesund­heit befas­sen.

Die Gren­zen des Wachs­tums und was danach kommt

50 Jah­re nach­dem der Club of Rome sei­nen Bericht „Die Gren­zen des Wachs­tums“ ver­öf­fent­licht hat28, läuft uns die Zeit davon – und die poli­ti­schen und unter­neh­me­ri­schen Inter­es­sen sind nicht auf unse­rer Sei­te. Sie ver­tei­di­gen Wachs­tum und sind nach wie vor tief in den Gesund­heits­sys­te­men ver­an­kert. Eine pfle­ge­ori­en­tier­te Post­wachs­tums-Trans­for­ma­ti­on des deut­schen und ande­rer euro­päi­scher Gesund­heits­sys­te­me als Teil einer umfas­sen­de­ren wirt­schaft­li­chen Trans­for­ma­ti­on wür­de es uns ermög­li­chen, die töd­li­che sozia­le und öko­lo­gi­sche Sack­gas­se, in der wir uns befin­den, zu über­win­den. Eine kla­re Visi­on von einer Gemein­wohl­öko­no­mie inner­halb pla­ne­ta­rer Gren­zen soll­te die Ent­wick­lung zukunfts­fä­hi­ger Gesund­heits­sys­te­me lei­ten und dabei auf den Grund­prin­zi­pi­en der inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät und der sozia­len Gerech­tig­keit auf­ge­baut sein. Wir soll­ten uns gegen das Man­tra „The­re is no alter­na­ti­ve“ („Es gibt kei­ne Alter­na­ti­ve“) und gegen die Behaup­tung, ein Gesund­heits­sys­tem ohne Wirt­schafts­wachs­tum sei eine poli­ti­sche Unmög­lich­keit, rich­ten. Denn: „Eine ande­re Welt ist nicht nur mög­lich, sie ist bereits im Ent­ste­hen. An einem stil­len Tag kann ich sie atmen hören.”29

Offe­ne Fra­gen

Um die Dis­kus­si­on und den Über­gang zu einem pfle­ge­ori­en­tier­ten und vom Wirt­schafts­wachs­tum unab­hän­gi­gen Gesund­heits­sys­tem vor­an­zu­trei­ben, müs­sen fol­gen­de Fra­gen beant­wor­tet wer­den:

  1. Unwirt­schaft­li­ches Wachs­tum in der Gesund­heits­ver­sor­gung:
    Was sind die Merk­ma­le des unwirt­schaft­li­chen Wachs­tums im deut­schen Gesund­heits­sek­tor und inwie­weit sind sie pro­ble­ma­tisch?

  2. Prio­ri­tä­ten und Gren­zen des Gesund­heits­sys­tems:
    Was sind die Fol­gen eines Gesund­heits­sys­tems, das sich an den Bedürf­nis­sen der Bevöl­ke­rung ori­en­tiert, anstel­le alles zu tun, was prin­zi­pi­ell mög­lich ist?

  3. Eine Visi­on für das Gesund­heits­sys­tem im Jahr 2048:
    Was wären die Wer­te und Prin­zi­pi­en einer zukünf­ti­gen Visi­on für das deut­sche Gesund­heits­sys­tem? Wie kön­nen wir im Rah­men eines inklu­si­ven Dia­logs stra­te­gi­sche Per­spek­ti­ven für das Gesund­heits­sys­tem im Jahr 2048 ent­wi­ckeln und för­dern? Was sind auf dem Weg zu einem auf Care-Arbeit basie­ren­den Gesund­heits­sys­tems die för­dern­den und hin­dern­den Fak­to­ren?
  1. Das Poten­ti­al des Gesund­heits­sys­tems:
    Gibt es bereits Bei­spie­le für inte­grier­te Post­wachs­tums­An­sät­ze im deut­schen oder in ande­ren Gesund­heits­sys­te­men? Wel­che Leh­ren las­sen sich aus die­sen zie­hen? Besteht hier­bei das Poten­ti­al einer Ska­lie­rung?

  2. Ver­netz­te Trans­for­ma­ti­on:
    In wel­chem Aus­maß sind Akteur:innen des Gesund­heits­sys­tems mit post­wachs­tums-ori­en­tier­ten Debat­ten, Denk­wei­sen und Akteur:innen außer­halb des Gesund­heits­sek­tors ver­netzt? Wo ist der poli­ti­sche, fach­li­che und gesell­schaft­li­chen Raum für Dis­kus­sio­nen um eine Post­wachs­tums­Trans­for­ma­ti­on vor­an­zu­brin­gen?30
Remco van de Pas

Über den Autor

Dr. Rem­co van de Pas ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Cent­re for Pla­ne­ta­ry Health Poli­cy (CPHP). Sei­ne Arbeit kon­zen­triert sich auf pla­ne­ta­re und glo­ba­le Gesund­heits­po­li­tik, ihre poli­ti­schen Öko­no­mien sowie Außen­po­li­tik. Dabei legt er einen beson­de­ren Fokus auf die Stär­kung der Gesund­heits­sys­te­me, Gesund­heits­fi­nan­zie­rung und Beschäf­ti­gung, Gemein­wohl­öko­no­mie, sozi­al-öko­lo­gi­sche Ein­fluss­fak­to­ren von Gesund­heit, Auf­ga­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens sowie Glo­ba­li­sie­rung und ihre Aus­wir­kun­gen auf Gleich­be­rech­ti­gung.

Dies ist der ers­te Teil einer Rei­he von Impul­sen, die neue The­men vor­stel­len und sich der Fra­ge wid­men, wie Poli­tik gestal­tet wer­den kann, damit das Gesund­heits­sys­tem inner­halb pla­ne­ta­rer Gren­zen bleibt. Sie sol­len als Denk­an­stö­ße die­nen, die zum Nach­den­ken und Reflek­tie­ren anre­gen.

Wei­te­re Lese­emp­feh­lun­gen

  • WHO Decla­ra­ti­on of Alma-Ata (1978). Inter­na­tio­nal Con­fe­rence on Pri­ma­ry Health Care Alma Ata. https://www.who.int/teams/social-determinants-of-health/declaration-of-alma-ata
  • Labon­té, R. (2022). A post-covid eco­no­my for health: from the gre­at reset to build back dif­fer­ent­ly. BMJ, 376. https://doi.org/10.1136/bmj-2021–068126
  • Jack­son, T. (2021). Post growth: Life after capi­ta­lism. John Wiley & Sons.
  • Hickel, J. (2020). Less is more: How degrowth will save the world. Ran­dom House.
  • Van Woer­den, W. et al. (2021). Living well on a fini­te pla­net. Buil­ding a caring world bey­ond growth. Com­mons Net­work. https://www.commonsnetwork.org/2021/11/19/new-report-out-now-building-a-caring-world-beyond-growth/

Lite­ra­tur

  1. Deut­sche Alli­anz Kli­ma­wan­del und Gesund­heit (2021). Kli­ma­neu­tra­ler Gesund­heits­sek­tor.
    https://www.klimawandel-gesundheit.de/klimaneutralitaet/
  2. Orga­ni­sa­ti­on for Eco­no­mic Co-ope­ra­ti­on and Deve­lo­p­ment (2017). Tack­ling was­teful spen­ding on Health.
    https://www.oecd.org/health/tackling-wasteful-spending-on-health-9789264266414-en.htm
  3. Gul­de­mann, H. (2022). Ger­ma­ny Coun­try report on health worker migra­ti­on and mobi­li­ty. Pil­lars of Health.
    https://pillars-of-health.eu/resource/country-report-on-health-worker-migration-and-mobility-in-germany/
  4. Die­te­rich, A. et al. (Eds.). (2019). Geld im Kran­ken­haus: eine kri­ti­sche Bestands­auf­nah­me des DRG-Sys­tems. Sprin­ger-Ver­lag.
  5. World Health Orga­niza­ti­on (2021). 21st cen­tu­ry health chal­lenges: can the essen­ti­al public health func­tions make a dif­fe­rence? Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO. https://apps.who.int/iris/handle/10665/351510
  6. Bob­sin, R. (2021). Pri­va­te Equi­ty im Bereich der Gesund­heits- und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen in Deutsch­land. Grund­la­gen, Ent­wick­lun­gen und Kon­tro­ver­sen. Offi­zin-Ver­lag. https://www.offizin-verlag.de/Rainer-Bobsin-Private-Equity-im-Bereich-der-Gesundheits–und-Pflegeeinrichtungen-in-Deutschland
  7. Daly, H. E. (2014). From une­co­no­mic growth to a ste­ady-sta­te eco­no­my. Edward Elgar Publi­shing.
  8. Hens­her, M. et al. (2020). Health care, over­con­sump­ti­on and une­co­no­mic growth: A con­cep­tu­al frame­work. Social Sci­ence & Medi­ci­ne, 266, 113420. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2020.113420
  9. M. Spran­ger et al. (2020). Ger­ma­ny: Health sys­tem review. Euro­pean Obser­va­to­ry on Health Sys­tems and Poli­ci­es.
    https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/341674/HiT-22–6‑2020-eng.pdf
  10. Orga­ni­sa­ti­on for Eco­no­mic Co-ope­ra­ti­on and Deve­lo­p­ment (2022). OECD Health Sta­tis­tics 2022.
    https://www.oecd.org/els/health-systems/health-data.htm
  11. The WHO Coun­cil on the Eco­no­mics of Health for all (2022). Valuing Health for All: Rethin­king and buil­ding a who­le- of-socie­ty approach. Coun­cil Brief No.3.
    https://www.who.int/publications/m/item/valuing-health-for-all-rethinking-and-building-a-whole-of-society-approach—the-who-council-on-the-economics-of-health-for-all—council-brief-no.-3
  12. Sozi­al­ge­setz­buch (SGB V) Fünf­tes Buch Gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung (1990). § 12 SGB V Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot.
    https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/12.html
  13. Kal­lis, G. (2018). Degrowth. Agen­da Publi­shing.
  14. Hickel, J. (2021). What does degrowth mean? A few points of cla­ri­fi­ca­ti­on. Glo­ba­liza­ti­ons, 18 (7), 1105–1111.
    https://doi.org/10.1080/14747731.2020.1812222
  15. Jack­son, T. (2009). Pro­spe­ri­ty wit­hout growth? The tran­si­ti­on to a sus­tainable eco­no­my. Sus­tainable Deve­lo­p­ment Com­mis­si­on.
    https://research-repository.st-andrews.ac.uk/bitstream/handle/10023/2163/sdc-2009-pwg.pdf?seq
  16. Kal­lis, G. (2011). In defence of degrowth. Eco­lo­gi­cal eco­no­mics, 70 (5), 873–880.
    https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2010.12.007
  17. Hickel, J. (2020). Less is more: How degrowth will save the world. Ran­dom House.
  18. Ger­man Advi­so­ry Coun­cil on Glo­bal Chan­ge (WBGU) (2021). Pla­ne­ta­ry Health: What we need to talk about. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/factsheets/fs10_2021/wbgu_ip_2021_planetaryhealth.pdf
  19. Raworth, K. (2017). Dough­nut eco­no­mics: seven ways to think like a 21st-cen­tu­ry eco­no­mist. Chel­sea Green Publi­shing.
  20. Kon­zept­werk Neue Oko­no­mie (2020). Zukunft für alle. Eine Visi­on für das Jahr 2048. Oekom Ver­lag.
    https://www.oekom.de/buch/zukunft-fuer-alle-9783962382575
  21. Hens­her, M., & Zywert, K. (2020). Can health­ca­re adapt to a world of tigh­tening eco­lo­gi­cal cons­traints? Chal­lenges on the road to a post-growth future. BMJ, 371:m4168. https://doi.org/10.1136/bmj.m4168
  22. Gruhl, M. (2021). Vor­aus­set­zun­gen und Mög­lich­kei­ten der Imple­men­tie­rung und Aus­ge­stal­tung von Pri­mär­ver­sor­gungs­zen­tren im deut­schen Gesund­heits­we­sen. Robert Bosch Stif­tung.
    https://www.bosch-stiftung.de/de/publikation/voraussetzungen-und-moeglichkeiten-der-implementierung-und-ausgestaltung-von 
  23. Regie­rungs­kom­mis­si­on für eine moder­ne und bedarfs­ge­rech­te Kran­ken­haus­ver­sor­gung (2022). Zwei­te Stel­lung­nah­me und Emp­feh­lung der Regie­rungs­kom­mis­si­on für eine moder­ne und bedarfs­ge­rech­te Kran­ken­haus­ver­sor­gung: Tages­be­hand­lung im Kran­ken­haus zur kurz­fris­ti­gen Ent­las­tung der Kran­ken­häu­ser und des Gesund­heits­we­sens. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_REGKOM_Bericht_II_2022.pdf
  24. Bloe­men, S., Van Woer­den, W. (2022). Mani­festo for a caring eco­no­my. Com­mons Net­work Foun­da­ti­on.
    https://www.commonsnetwork.org/wp-content/uploads/2022/06/Commons-Network-Manifesto-for-a-Caring-Economy-2022.pdf
  25. Van Woer­den, W. et al. (2021). Living well on a fini­te pla­net. Buil­ding a caring world bey­ond growth. Com­mons Net­work Foun­da­ti­on.
    https://www.commonsnetwork.org/2021/11/19/new-report-out-now-building-a-caring-world-beyond-growth/
  26. Poli­kli­nik Syn­di­cat (2022).
    https://www.poliklinik-syndikat.org/
  27. Zech­ner, M. (2021). Com­mo­ning care & coll­ec­ti­ve power: Child­ca­re com­mons and the micro­po­li­tics of muni­ci­pa­lism in Bar­ce­lo­na. Trans­ver­sal Texts. https://transversal.at/books/commoningcare
  28. Ger­man Advi­so­ry Coun­cil on Glo­bal Chan­ge (WBGU) (2011). World in Tran­si­ti­on – A Social Con­tract for Sus­taina­bi­li­ty. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011_en.pdf
  29. Mea­dows, D. H., Rand­ers, J., & Beh­rens III, W. W. (1972). The limits to growth: a report to the club of Rome. Uni­ver­se Books.
    http://www.donellameadows.org/wp-content/userfiles/Limits-to-Growth-digital-scan-version.pdf
  30. Roy, A. (2014). Capi­ta­lism: A ghost sto­ry. Hay­mar­ket Books.

© CPHP, 2023

Alle Rech­te vor­be­hal­ten.
Cent­re for Pla­ne­ta­ry Health Poli­cy
Cuvrystr. 1, 10997 Ber­lin

Das CPHP ist eine unab­hän­gi­ge Denk­fa­brik, die zu Gesund­heits­po­li­tik und glo­ba­len Umwelt­ver­än­de­run­gen arbei­tet.

Zita­ti­ons­vor­schlag:
Van de Pas R. (2023). War­um die Trans­for­ma­ti­on zu einem wachs­tums­un­ab­hän­gi­gen Gesund­heits- und Wirt­schafts­sys­tem nötig ist. T‑01–2023. Ber­lin: Cent­re for Pla­ne­ta­ry Health Poli­cy. Abruf­bar unter:
https://cphp-berlin.de/wpcontent/uploads/2023/01/CPHP_
Impuls_01-2023.pdf

CPHP- Publi­ka­tio­nen unter­lie­gen einem drei­stu­fi­gen inter­nen Über­prü­fungs­ver­fah­ren und geben die Auf­fas­sung der Autor:innen wie­der.

info@cphp-berlin.de
www.cphp-berlin.de