“Wir müs­sen unse­re Wirt­schafts­sys­te­me anders orga­ni­sie­ren”

 

Wie beein­flusst Poli­tik Gesund­heit? Wel­che Fak­to­ren füh­ren zu Ungleich­hei­ten? 2014 hat sich eine inter­na­tio­na­le Kom­mis­si­on des medi­zi­ni­schen Fach­jour­nals „The Lan­cet“ die­sen Fra­gen im Bericht „The poli­ti­cal ori­g­ins of health ine­qui­ty: pro­s­pects for chan­ge“ gewid­met. Zehn Jah­re spä­ter hat die Uni­ver­si­tät Oslo in einem Work­shop Bilanz gezo­gen. Mit dabei war unser wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter Rem­co van de Pas, mit dem wir einen Blick auf die wich­tigs­ten The­men und Emp­feh­lun­gen des Berichts wer­fen und dis­ku­tie­ren, was wir für heu­ti­ge poli­ti­sche Maß­nah­men dar­aus ler­nen kön­nen.

Poli­tik beein­flusst Gesund­heit. Das klingt aus heu­ti­ger Sicht nach­voll­zieh­bar und wenig ori­gi­nell. Was war neu am Bericht der Kom­mis­si­on vor zehn Jah­ren?

van de Pas — Das Neue an der Lan­cet-Kom­mis­si­on war ihr Blick über natio­na­le Gren­zen hin­aus auf die inter­na­tio­na­len Zusam­men­hän­ge. Es ging also erst­mals dar­um, wie Gesund­heit zwi­schen Län­dern und ihren Regie­run­gen, aber auch in Zusam­men­ar­beit mit nicht­staat­li­chen Akteur:innen wie NGOs, phil­an­thro­pi­schen Orga­ni­sa­tio­nen und welt­weit agie­ren­den Unter­neh­men poli­tisch orga­ni­siert wird. Der Bericht hat gezeigt, dass es län­der­über­grei­fen­de Fak­to­ren gibt, die Gesund­heit beein­flus­sen. Wenn zum Bei­spiel Deutsch­land vie­le Treib­haus­ga­se aus­stößt, hat das Aus­wir­kun­gen auf den Kli­ma­wan­del und damit auch auf Gesund­heit in ande­ren Län­dern. Ähn­li­ches gilt für das Han­dels­sys­tem. Wenn wir geis­ti­ges Eigen­tum schüt­zen und Medi­ka­men­te des­we­gen nicht in ande­ren Län­dern her­ge­stellt wer­den kön­nen, dann haben die Men­schen in die­sen Län­dern kei­nen oder nur erschwert Zugang zu die­sen Pro­duk­ten. Wäh­rend der COVID-19 Pan­de­mie konn­ten wir das für Impf­stof­fe und ande­re medi­zi­ni­sche Pro­duk­te bei­spiels­wei­se in Süd­afri­ka beob­ach­ten. Die­se außen­po­li­ti­schen Trends und die damit ver­bun­de­nen wirt­schaft­li­chen Aspek­te sind poli­ti­sche Fak­to­ren, Deter­mi­nan­ten, die Gesund­heit beein­flus­sen und mit­be­stim­men. Die Lan­cet-Kom­mis­si­on befass­te sich 2014 erst­mals mit den glo­ba­len Struk­tu­ren, die die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) und ande­re Insti­tu­tio­nen benö­ti­gen, um mit die­sen Fra­gen umzu­ge­hen. Gesund­heit­li­che Ungleich­hei­ten – also, dass man­che Men­schen viel stär­ker gefähr­det sind als ande­re – spiel­ten dabei eine wich­ti­ge Rol­le.

Inzwi­schen ist die Welt eine ande­re. Ist der Bericht immer noch aktu­ell?

van de Pas — Das war die zen­tra­le Fra­ge mei­nes Work­shops im Janu­ar in Oslo zum 10-jäh­ri­gen Erschei­nen des Berichts. Im Bericht von 2014 wur­den unter ande­rem Ernäh­rungs­si­cher­heit oder die Aus­wir­kun­gen der Spar­maß­nah­men und der Finanz­kri­se unter­sucht. Auch der Umgang mit geis­ti­gem Eigen­tum oder mit bewaff­ne­ten Kon­flik­ten wur­de dis­ku­tiert. Wirft man heu­te einen Blick auf die Emp­feh­lun­gen von damals, um Ungleich­hei­ten zu abzu­bau­en, wird schnell klar, dass sich die Lage seit­her eher ver­schlech­tert hat.

Die Emp­feh­lun­gen sind also rele­van­ter als je zuvor …

van de Pas — Ja. Aller­dings kon­zen­trie­ren sie sich stark auf insti­tu­tio­nel­le Refor­men. Wie kön­nen die Orga­ni­sa­tio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen – bei­spiels­wei­se der Inter­na­tio­na­le Wäh­rungs­fonds (IWF) oder die Welt­ernäh­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (FAO) – bes­ser zusam­men­ar­bei­ten, um die­se Pro­ble­me in den Griff zu bekom­men? Wie kön­nen Staa­ten und die Insti­tu­tio­nen, in denen sie arbei­ten, in die Pflicht genom­men wer­den? In die­se Rich­tung gin­gen die Emp­feh­lun­gen vor zehn Jah­ren. Wir sehen jetzt, wel­che Gren­zen das hat, auch weil der Pri­vat­sek­tor und phil­an­thro­pi­sche Orga­ni­sa­tio­nen mas­siv an Ein­fluss gewon­nen haben. Die Ver­hand­lun­gen über einen Pan­de­mie­ver­trag zei­gen bei­spiels­wei­se, wie schwie­rig es für die Mit­glied­staa­ten ist, sich in einer Orga­ni­sa­ti­on wie der WHO auf bestimm­te The­men zu eini­gen und zu einer gerech­ten Lösung zu kom­men.

Wel­che Rol­le spiel­te das The­ma Kli­ma und Gesund­heit?

van de Pas — Inter­es­san­ter­wei­se haben die Autor:innen des Berichts Kli­ma- und ande­re Umwelt­fra­gen nicht ange­spro­chen. Ich den­ke, das liegt zum einen an Umfang und Kom­ple­xi­tät des The­mas. Zum ande­ren war unklar wel­che Rol­le die Akteur:innen im Gesund­heits­we­sen und die Gesund­heits­be­hör­den bei der Bewäl­ti­gung der Kli­ma­kri­se spie­len wür­den. Die Autor:innen des Berichts kamen vor allem aus dem Bereich glo­ba­le Gesund­heit – mit wenig öko­lo­gi­schen Kennt­nis­sen oder Ein­bli­cke in die Erd­sys­tem­wis­sen­schaf­ten. Sie sahen damals im Bereich Umwelt, Kli­ma und Gesund­heit kein direk­tes Man­dat für Gesundheitsakteur:innen.

War­um ist der Bericht aus Per­spek­ti­ve von pla­ne­ta­rer Gesund­heit und für dei­ne Arbeit trotz­dem wich­tig?

van de Pas — Gesund­heit hat in inter­na­tio­na­len Kli­ma­ver­hand­lun­gen seit­her immer mehr an Bedeu­tung gewon­nen, bei der COP28 letz­ten Dezem­ber war Gesund­heit ein zen­tra­les The­ma. Pla­ne­ta­re Gesund­heit ist als wich­ti­ges Feld ent­stan­den, das Umwelt, Kli­ma und Gesund­heit zusam­men­denkt. Den­noch sind vie­le der Schwie­rig­kei­ten, die der Bericht skiz­ziert hat, immer noch aktu­ell. Obwohl der Druck gestie­gen ist, das Pari­ser Abkom­men umzu­set­zen und die Kli­ma­kri­se gemein­sam zu bewäl­ti­gen, kon­zen­trie­ren sich die Län­der wei­ter­hin zuerst auf die Bedürf­nis­se ihrer eige­nen Bürger:innen. Auf den ers­ten Blick mag das ver­ständ­lich sein, aber auf den zwei­ten eher kurz­sich­tig. Um das bes­ser zu ver­ste­hen, müs­sen wir die zugrun­de­lie­gen­den Struk­tu­ren betrach­ten, also jene poli­ti­schen Deter­mi­nan­ten, die der Bericht 2014 her­aus­ge­ar­bei­tet hat. Um ein Bei­spiel zu geben: In einer Pan­de­mie ist neben der Ent­wick­lung von Impf­stof­fen die Fra­ge wich­tig, wie sich die Ent­ste­hung von Infek­ti­ons­krank­hei­ten und ihre Ver­brei­tung ver­mei­den las­sen. Hier kommt die Per­spek­ti­ve der pla­ne­ta­ren Gesund­heit ins Spiel. Indem wir Wäl­der abhol­zen und auf­grund inten­si­ver Agrar­wirt­schaft drin­gen wir tief in den Lebens­raum ande­rer Arten ein. Damit steigt das Risi­ko, dass Krank­heits­er­re­ger vom Tier auf den Men­schen über­sprin­gen – und umge­kehrt.

Anstatt sich also vor­wie­gend auf die Ent­wick­lung von Impf­stof­fen zu kon­zen­trie­ren, soll­ten wir uns drin­gend auch damit befas­sen, wie wir unse­re Wirt­schaft nach­hal­ti­ger orga­ni­sie­ren. Hier liegt der Schlüs­sel, hier soll­te man regu­lie­rend ein­grei­fen. Im Kern bedeu­tet das, dass wir uns weni­ger auf stän­di­ges Wachs­tum und Expan­si­on fokus­sie­ren soll­ten, son­dern mehr auf Suf­fi­zi­enz, also einen mög­lichst gerin­gen Roh­stoff­ver­brauch, der die natür­li­che Begren­zung der Res­sour­cen berück­sich­tigt. Als poli­ti­sche Bot­schaft ist das natür­lich schwie­rig, denn zahl­rei­che öko­no­mi­sche und Han­dels­in­ter­es­sen sind invol­viert. Den­noch ist die­ser Para­dig­men­wech­sel not­wen­dig, um Gesund­heit inner­halb pla­ne­ta­rer Gren­zen zu gewähr­leis­ten. Ich sehe es als unse­ren Auf­trag als Thinktank, zu einer sozi­al-öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on bei­zu­tra­gen. Und das bedeu­tet, dass wir auch unse­re Wirt­schafts­sys­te­me anders orga­ni­sie­ren müs­sen.

Bli­cken wir nach Deutsch­land. Wel­che Leh­ren kön­nen wir auch heu­te noch aus dem Bericht zie­hen und wie kann die Arbeit der Kom­mis­si­on wei­ter­ge­führt wer­den?

van de Pas — Deutsch­land ist ein sehr wich­ti­ges Land, inner­halb der EU ist es das wirt­schafts­stärks­te Mit­glied und welt­weit gehört es zu den größ­ten Expor­teu­ren. Ich kom­me aus den Nie­der­lan­den, wo wir gern den Witz machen ‚wenn Deutsch­land eine Grip­pe hat, dann nie­sen wir in den Nie­der­lan­den‘. Deutsch­land nimmt sei­ne Ver­ant­wor­tung wahr, hat bereits viel in inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen inves­tiert und sieht die Not­wen­dig­keit star­ker inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen, die an der Schnitt­stel­le von Kli­ma, Gesund­heit und Bio­di­ver­si­tät arbei­ten. Doch wenn wir einen Nut­zen haben wol­len, soll­ten wir auch kei­nen Scha­den anrich­ten. Hier muss Deutsch­land drin­gend bes­ser wer­den. Den Scha­den ver­ur­sacht die Art und Wei­se wie wir wirt­schaf­ten, wenn wir zum Bei­spiel Pro­duk­te wie Autos, Che­mi­ka­li­en oder Rüs­tungs­gü­ter expor­tie­ren, die ganz klar gesund­heit­li­che Schä­den anrich­ten kön­nen. Oder im Umgang mit inter­na­tio­na­len Fir­men, wenn die­se für wirt­schaft­li­che und öko­lo­gi­sche Schä­den, die sie in ande­ren Län­dern anrich­ten, kei­ne Ver­ant­wor­tung über­neh­men müs­sen. Sind wir bereit an einer inter­na­tio­na­len Gesetz­ge­bung zu arbei­ten, die sich mit Umwelt­ver­schmut­zung befasst? Und über­neh­men wir die Ent­schä­di­gung, wenn die Umwelt zu Scha­den gekom­men ist? Es geht nicht nur dar­um, die Din­ge künf­tig bes­ser zu machen, son­dern auch dar­um, Feh­ler zu kor­ri­gie­ren und wie­der gut zu machen. Wenn wir als Thinktank die­sen Ansatz ein­brin­gen kön­nen, dann sind wir schon ein Stück wei­ter.

Das Inter­view führ­te Dr. phil. Tere­sa Hol­ler­bach. Redak­ti­on: Mai­ke Bild­hau­er.

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